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Gesundheit: Nicht nur Herr Zwilling und Frau Zuckermann

Als Axel Halling 1995 zum ersten Mal in Czernowitz war und im Rahmen eines workcamps auf einem jüdischen Friedhof Unkraut jätete, hatte er im Traum nicht daran gedacht, vier Jahre später gemeinsam mit anderen Studierenden ein Buch zu präsentieren.Ein Buch mit den Geschichten der Menschen, denen er in der ukrainischen Stadt begegnet war und denen die ein Jahr später gegründete Projektgruppe noch begegnen sollte.

Als Axel Halling 1995 zum ersten Mal in Czernowitz war und im Rahmen eines workcamps auf einem jüdischen Friedhof Unkraut jätete, hatte er im Traum nicht daran gedacht, vier Jahre später gemeinsam mit anderen Studierenden ein Buch zu präsentieren.Ein Buch mit den Geschichten der Menschen, denen er in der ukrainischen Stadt begegnet war und denen die ein Jahr später gegründete Projektgruppe noch begegnen sollte.

"Czernowitz", so titelt das Buch, "is gewen an alte jidische Schtot ..." und liegt aus westeuropäischer Sicht recht abgeschieden hinter den Karpaten.Unter der Habsburger Monarchie war sie bis 1918 die Hauptstadt des Kronlandes Bukowina, wurde erst von Rumänien, dann, 1940, von der Roten Armee erobert, um ein Jahr später wieder an Rumänien zu fallen.Mit den rumänischen Truppen kam auch die Gestapo in die Bukowina.Nach dem Krieg geriet Czernowitz als Teil der Ukraine unter sowjetische Herrschaft und als die einstige "Stadt der Menschen und Bücher" in Vergessenheit.

Erst in den letzten Jahren wurde in den Literatur- und Geschichtswissenschaften Czernowitz vor allem als Geburtsort des jüdischen Dichters Paul Celan beziehungsweise als Musterbeispiel für das Zusammenleben verschiedener Volksgruppen neu entdeckt und "dabei oftmals völlig verklärt dargestellt", wie Axel Halling findet.

Unter diesem Aspekt begannen 1996 acht Studierende des Osteuropa-Institutes der Freien Universität Berlin (FU), sich die Konzeption eines "Oral-History-Projektes" zu erarbeiten.Die erzählten Lebensgeschichten der nur noch wenigen "Ur-Czernowitzer" Jüdinnen und Juden sollten ein Bild zeichnen, das die gängigen Vorstellungen eines harmonischen Zusammenlebens von Polen, Juden, Rumänen, Ukrainern, Deutschen und Östereichern in der Zwischenkriegszeit korrigiere, so die Idee.

Und es gab Herrn Zwilling.Herr Zwilling, Jahrgang 1931, kennt alles und jeden in Czernowitz und ist die zentrale Figur des 1990 dort neugegründeten Jüdischen Kulturvereins.Außerdem ist Matthias Zwilling neben seiner Freundin Rosa Zuckermann Protagonist des Dokumentarfilms, den der Regisseur Volker Koepp gedreht hat.Herrn Zwilling verdankte die Gruppe ihre zukünftigen fünfundzwanzig Interviewpartner, die in den geplanten zwei Wochen gerne bereit waren, über ihr Leben in Czernowitz zu berichten.Ein Leben, das spätestens mit Kriegsbeginn bestimmt war durch Angst, Tod und Unterdrückung.

Während die Bukowina-Expertin Mariana Hausleitner die Studierenden mit der komplizierten Geschichte der Bukowina vertraut machte, übernahm die Heinrich-Böll-Stiftung den finanziellen Part und bezahlte Reise- und Druckkosten.Denn daß am Ende ein Buch entstehen sollte, war von Anfang an klar.Weniger klar war jedoch, wie viel Zeit bis zu seinem Erscheinen noch verstreichen sollte."Das erste Semester brauchten wir allein für die theoretische Auseinandersetzung mit Interviewtechniken und der mündlichen Geschichtsforschung", erinnert sich Gaby Coldewey, die damals kurz vor ihrer Magisterarbeit stand.

Im Sommer 1996 ging es dann los nach Czernowitz, mit Tonbandgeräten und dem Wissen um die große Ungewißheit.Anfangs kam Herr Zwilling zu jedem Interview mit."Ich hatte solche Angst gehabt, als wir am Zaun von Frau Rosenberg standen", erzählt Gaby."Die Angst, menschlich völlig zu versagen." Zum Glück ging Gaby Coldewey gemeinsam mit ihrer Kommilitonin Gertrud Ranner zu ihrem ersten Interview.Und zum Glück war es Frau Rosenberg, "die zwar aussah wie der Tod, aber mit einer wundervollen Stimme absolut strukturiert und innerlich gefaßt sprach".Ihre Biographie wurde dann mit sieben Seiten einer der längsten in dem Buch."1941, als die Rumänen sind gekommen, haben sie befohlen, daß wir Sterne tragen auf der Brust - gelbe", beginnt der Abschnitt "Deportation", den Frau Rosenberg als Manuskript noch Korrektur lesen konnte, bevor sie wenige Monate später sechsundsiebzigjährig verstarb.

"Interviewen heißt eigentlich zuhören.Und das", meint Axel im Nachhinein, "kann man nur während der Interviews selber lernen." Trotzdem bedarf es der Sprache, die in Czernowitz seine Geschichte bis heute erzählt.Die jüdische Bevölkerung spricht noch viel Deutsch und Jiddisch und natürlich Russisch beziehungsweise Ukrainisch oder "alles im Mischmasch".Insofern war die Gruppe auf ihre Russischkenntnisse angewiesen.

Seit Februar diesen Jahres gibt es sie nun in Buchform, die Berichte der überlebenden Czernowitzer Juden.Aus rund fünfzig Stunden Tonmaterial transskribiert und nach eineinhalbjähriger Redaktionsarbeit mit einer historischen Einleitung sowie einer vergleichenden Zusammenfassung versehen."Ein einziger Lernprozeß", wie Axel den vorangegangenen Streß nun gelassen bezeichnet.

Daß vergangenen Mittwoch die zweite überarbeitete Auflage dieses Buches gemeinsam mit der Deutschlandpremiere des Filmes "Herr Zwilling und Frau Zuckermann" in der Akademie der Künste präsentiert werden konnte, war kein Zufall.Es gebe bald einen Film, hatte Herr Zwilling im vergangenen Sommer erzählt, worauf die Gruppe den Kontakt zum Regisseur Volker Koepp suchte und fand.Bereits zur diesjährigen Berlinale kam die Einladung, nach eben jenem Film "Herr Zwilling und Frau Zuckermann" das Buch "Czernowitz is gewen an alte, jidische Schtot ..." vorzustellen, das auch Berichte von Rosa Zuckermann und Matthias Zwilling enthält."Die Leute hatten wahnsinniges Interesse und die Bücher waren fast alle weg", erinnert sich Axel.Während die erste Auflage von 600 Exemplaren bewußt ukrainisch-deutsch gefaßt war und zur Hälfte in Czernowitz blieb, mußte nun aus Zeitgründen auf die Zweisprachigkeit verzichtet werden.Die Einnahmen (15 Mark pro Buch, das nur bei der Heinrich-Böll-Stiftung zu bestellen ist) kommen aber weiterhin der Jüdischen Gemeinde vor Ort zu Gute.

Von dem Anfangsgedanken, Geschichtsbilder zurechtzurücken, hat sich die Gruppe übrigens sehr schnell distanziert.Wenn zwar in der Tat wenig von einer "Multi-Kulti-Harmonie" zu lesen ist, so geht es in erster Linie um die Biographien, die im Ganzen für sich allein stehen und kein Lebensabschnitt ist für ihre Darstellung wichtiger als ein anderer.Darin liegt die Sensibilität dieses Buches, aus dem trotz eines interessanten vergleichenden Nachwortes die Einzigartigkeit eines jeden Menschen spricht.

Die Gruppe präsentiert ihr Buch im Anschluß an zwei Vorführungen des Films von Volker Koepp, zu denen auch Matthias Zwilling kommt: Am heutigen Sonnabend um 20 Uhr im Kino in den Hackeschen Höfen, am Montag um 20 Uhr in der Filmbühne am Steinplatz.

ANJA HENNIG

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