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Gesundheit: Nie mehr sitzen bleiben

Kinder dürfen nicht zu früh auf eine Schulform festgelegtwerden – was Deutschland von den erfolgreichen Pisa-Staaten lernen kann

Uns allen sind die Pisa-Ergebnisse noch in guter Erinnerung: Die schulischen Leistungen der 15-Jährigen in Deutschland fallen weit hinter die internationale Qualitätsspitze zurück, und das deutsche Bildungssystem steuert ungünstigen sozialen Voraussetzungen nur unzureichend entgegen. Jeder hatte da so seine Erklärungen, woran das lag oder woran nicht – die Selektivität im Umgang mit den Pisa-Ergebnissen in Deutschland stand der Selektivität des deutschen Schulsystems dabei um nichts nach. Einig war man sich oft nur bei der Beurteilung von Faktoren, die außerhalb des Schulsystems liegen – Kindergarten, Elternhaus und so fort.

Dann aber kam Iglu, die Untersuchung von Leseleistungen gegen Ende der Grundschulzeit. Unter den 15 teilnehmenden OECD-Staaten liegen die Ergebnisse für Deutschland hier im guten Mittelfeld und zeigen eine vergleichsweise geringe Streuung der Schülerleistungen. Selbst die Lernrückstände von Kindern mit Migrationshintergrund und aus bildungsfernen Elternhäusern sind, obwohl Besorgnis erregend, deutlich geringer als bei den 15-Jährigen. Zu Beginn der Schulzeit ist die Welt also noch weitgehend in Ordnung.

Damit ist klar, dass das deutsche Schulsystem selbst – das heißt Lernen und Unterricht, Bildungsstrukturen und -politik – einen erheblichen Teil der Verantwortung für die durch Pisa aufgezeigten Defizite gegen Ende der Schulzeit trägt. Die Zusammenschau der Ergebnisse von Pisa und Iglu zeigt insbesondere, dass das Ziel der frühzeitigen Differenzierung, nämlich leistungsschwächere und leistungsstärkere Schüler durch Trennung in verschiedene Schulformen optimal zu fördern, zumindest im Bereich Lesekompetenz verfehlt wird. Weder werden in den Hauptschulen leistungsschwächere Schüler besonders gut gefördert, noch ergibt die Auslese der vermeintlich leistungsstärksten Leser für das Gymnasium eine zufrieden stellende Leistungsspitze. Schaut man genauer hin, zeigt sich auch, dass Kinder mit ähnlichen Iglu-Leistungen sehr unterschiedliche Beurteilungen in Form von Lese- und Deutschnoten sowie Übergangsempfehlungen für weiterführende Schulformen erhalten. Im Ergebnis bleibt dabei das Leistungspotenzial vieler junger Menschen ungenutzt.

Nicht immer auf Studien warten

Trotz der enttäuschenden Ergebnisse haben Pisa und Iglu Wichtiges erreicht, indem sie eine empirische Grundlage für eine strategische Neuausrichtung der Bildungssysteme geschaffen haben. Leistungsvergleiche waren dabei geeignetes Mittel – nicht Selbstzweck–, um Stärken und Schwächen der Bildungssysteme herauszuarbeiten und einen erweiterten, globalen Horizont und Konsens für die erfolgreiche Gestaltung von Bildungsreformen zu schaffen. Um die in Pisa und Iglu liegenden Chancen zu ergreifen, müssen wir jedoch fünfzehn, zwanzig Jahre nach vorne schauen. Sicher kann niemand heute voraussagen, wie Gesellschaft und Bildung in zwanzig Jahren aussehen werden. Aber es liegt in unserer Verantwortung, heute darüber zu diskutieren, wie wir uns diese Zukunft wünschen und wie wir sie gestalten wollen. Es reicht nicht, immer nur auf die nächste Studie zu warten und dann mit kurzfristig angelegten Maßnahmen zu reagieren. Nur wer strategische Perspektiven, Bildungsziele und Instrumente der Bildungsplanung hat, kann sinnvoll darüber entscheiden, was kurzfristig, mittelfristig und langfristig sinnvoll erreichbar ist.

Die im internationalen Vergleich erfolgreichen Länder bieten dabei einen Orientierungsrahmen für Veränderungen: Traditionell erfolgt der Zugang zum Lernen durch die Lehrer, die Wissen vermitteln. Die Zukunft braucht Lehrer als Experten, die Schüler begleiten und dabei unterstützten, durch eigenständiges Denken und Handeln selbstständig und kooperativ zu lernen. Traditionell lernt der Schüler für sich, im Rahmen vorgegebener Lehrpläne, die Bildungsinhalte fest schreiben. Maßstab für Erfolg ist dann das Abarbeiten der Lehrpläne und die Akkumulation von Fachwissen anstelle der Verankerung von effektiven Lernstrategien und anschlussfähigem Wissen für weiterführende Lernprozesse. Die Zukunft braucht Schulen, die sich an strategischen Bildungszielen orientieren, und Lehrer, die diese Ziele verbindlich und individuell in Lernziele und Lernmethoden für den einzelnen Schüler umsetzen können, das heißt Lernpfade individualisieren und Schüler dazu befähigen, gemeinsam und voneinander zu lernen.

Die Antwort auf die Frage nach sinnvollen Bildungszielen beginnt dabei nicht mit der Festlegung von inhaltlichen Mindeststandards, sondern mit einem Diskurs über die für die Zukunft entscheidenden Kompetenzen, deren Definition, Operationalisierung und schließlich systematische Bewertung. Nur wer klare Erwartungen hat, diese in Form von strategischen Bildungszielen formulieren und den Entscheidungsträgern und Handelnden – Schulen, Lehrern, Schülern und Eltern – schließlich auch vermitteln kann, der wird Leistungsbereitschaft erfolgreich einfordern können.

Traditionell benutzen wir Klassenarbeiten und Zensuren zur Kontrolle, etwa um Leistungen zu zertifizieren und den Zugang zu höherer Bildung zu rationieren. Die Zukunft braucht moderne Evaluation und motivierende Leistungsrückmeldungen, die Vertrauen in Lernergebnisse schaffen und mit denen Lernpfade und -strategien entwickelt und begleitet werden können. Die Begutachtung des Bildungssystems, nicht die Endkontrolle des Schülers, wird zum zentralen Element der Qualitätssicherung. Pisa und Iglu können dazu wichtige Anstöße geben.

Traditionell setzt das deutsche Schulsystem auf frühe Auslese und, damit verbunden, auf einförmigen Unterricht in möglichst leistungshomogenen Lerngruppen. Die Zukunft braucht einen konstruktiven und individuellen Umgang mit Leistungsunterschieden und Begabungen, offene und integrierte Lernangebote, die unterschiedlichen Interessen, Fähigkeiten und Lebenssituationen gerecht werden. In einer Zeit, in der lebensbegleitendes Lernen zum Schlüssel für die Zukunftsfähigkeit geworden ist, kann es sich niemand leisten, Schüler früh auf festgefügte Bildungsstrukturen festzulegen. Es gilt vielmehr, ihnen durch individuelle Förderung Perspektiven für die Gestaltung ihrer eigenen Zukunft zu eröffnen.

Die dramatischen Defizite in der Bildungsbeteiligung im deutschen Tertiärbereich (Hochschulen und Vergleichbares, d.Red) unterstreichen die Notwendigkeit, Bildungswege offen zu halten. Die leistungsstärksten Pisa-Staaten geben uns dafür gute Beispiele. In diesen Ländern übernehmen Lehrer und Schulen Verantwortung für alle Schüler. Es gelingt ihnen, sowohl Schwächen und Benachteiligungen auszugleichen, als auch Talente zu finden und zu fördern. In diesen Ländern sucht niemand nach Möglichkeiten, die Verantwortung allein auf die Lernenden zu schieben, das heißt, etwa Schüler den Jahrgang wiederholen zu lassen oder sie in Bildungsgänge bzw. Schulformen mit geringeren Leistungsanforderungen zu verweisen. In diesen Ländern stellt sich für Lehrer auch nicht die Frage, ob die Schüler in ihre Klasse gehören oder ob sie für deren Unterricht ausgebildet wurden.

Qualität und Teilhabe sind vereinbar

Traditionell sind Lehrer und Schulen die letzte ausführende Instanz eines komplexen Verwaltungsapparates. In Zukunft werden sich die Relevanz und Effizienz dieses Apparates, ob in Kommunen, Ländern oder beim Bund, daran messen müssen, wie gut sie die Schulen beim Erreichen gemeinsam vereinbarter Bildungsziele unterstützen und welchen zusätzlichen Wert sie selber schöpfen, das heißt über das hinaus leisten, was die Schule, als selbstständige und pädagogisch verantwortliche Einheit leisten kann.

Ist eine zukunftsorientierte Bildung für alle angesichts der enttäuschenden Pisa-Ergebnisse eine abstrakte, unrealistische Vision? Nein, Deutschland war traditionell ein starkes Bildungsland, und die Pisa-Ergebnisse anderer Staaten – sowie vieler erfolgreicher deutscher Schulen – zeigen, dass eine hohe Qualität von Bildungsleistungen sowie eine ausgewogene Verteilung von Bildungschancen erreicht werden können. An diesen Erfolgen, nicht am OECD-Mittelmaß, müssen wir Bildungsergebnisse messen. Klar ist, dass die Zukunftsfähigkeit unserer Gesellschaft ganz entscheidend von dem Erfolg dieser Bemühungen abhängen wird.

Der Autor ist internationaler Koordinator der Schuluntersuchung Pisa bei der Organisation für wirtschaftliche Kooperation und Entwicklung (OECD) in Paris. In diesem Jahr wurde Schleicher mit dem Theodor-Heuss- Preis geehrt.

Andreas Schleicher

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