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Pflegeheim in Thailand: Die Reise ins Vergessen

Seine demente Mutter brauchte einen Heimplatz, aber dem Schweizer Martin Woodtli missfielen die, die er sah. Da erinnerte er sich an Thailand und den freundlichen Umgang dort mit Kranken und Alten. Sollte das die Lösung sein?

Der Ausflug, an den sie sich schon am Abend kaum noch erinnern werden, bringt sie zu Mönchen in safrangelben Gewändern, er lässt sie seltsame Musik hören und serviert ihnen Essen, das so scharf ist, dass ihnen die Augen tränen und sie abwechselnd husten und lachen müssen.

Sie sind eine Gruppe alter Leute, mit Krücken, Gehhilfen oder in das Aluminium ihrer Rollstühle gefesselt, nur begrenzt fähig, sich mitzuteilen, weil sie ihre Sprache verloren oder eine eigene erfunden haben. Sie sind die Gäste von Baan Kamlangchay, einem Alzheimerzentrum am Stadtrand von Chaing Mai im Norden Thailands, und der Ausflug führt sie in ein Kloster der Umgebung.

Es ist eine exotische Zauberwelt, die so gar nichts mit Deutschland oder der Schweiz gemeinsam hat, mit den Ländern, aus denen die alten Menschen stammen. An Souvenirständen werden T-Shirts angeboten, auf denen „Amazing Thailand“ steht – wunderbares Thailand. In der Garküche köcheln Fisch und Suppe, die Kellnerin stellt Schüsseln vor die Herrschaften und verbeugt sich, die Hände vor die Brust gefaltet, die Geste des Respekts. Eine Mutter setzt ihr fröhliches Kind auf den Schoß einer älteren Dame. Ein Herr sitzt abseits auf einem roten Plastikschemel. Er trägt eine warme Jacke, weil man ja nie weiß, ob es nicht gleich zu schneien beginnt. Die Einheimischen scherzen in ihrer Sprache, und die Fremden, die nichts verstehen, lachen mit.

Aber wenn man sie später fragt, wie ihnen der Ausflug gefallen hat, dann sagen sie: „Welcher Ausflug?“

Das Heim Baan Kamlangchay befindet sich inmitten einer Vorortsiedlung von Thailands zweitgrößter Stadt. Es ist eine friedliche Gegend. Hier schließen die Nachbarn nachts ihre Türen nicht ab, die Kinder spielen auf den Straßen Federball und Verstecken. Bougainvilleas blühen, die Luft ist sauber und klar, die Hecken der Vorgärten sind gestutzt. Und das nächste Krankenhaus ist nur ein paar Autominuten entfernt.

In seinem Büro am Computer sitzt Martin Woodtli, 47, ein kräftiger Mann mit freundlichen Augen, der Gründer des Heims. Er korrespondiert mit den Angehörigen seiner Patienten, die er Gäste nennt, das ist ihm wichtig, „das zeigt Respekt vor einem gelebten Leben, das langsam zu Ende geht.“ Vor sieben Jahren hat er das Heim gegründet und inzwischen wohnen zehn Patienten in sechs Häuschen, die von 30 Pflegern und Krankenschwestern rund um die Uhr betreut werden. Der Name des Heims bedeutet übersetzt: Betreuung des Herzens.

In Haus Nummer sechs kümmert sich die 26-jährige Umphorn, die gelernte Pflegerin ist, um einen 81 Jahre alten Herrn, der an Alzheimer leidet. Seit drei Jahren pflegt sie ihn, und in dieser Zeit ist sie zu einer Mischung aus Bezugsperson, bester Freundin und Ersatzenkelin geworden. Jetzt sitzen die beiden auf dem Sofa und spielen Jassen, und weil der alte Herr nicht verlieren kann, lässt Umphorn ihn gewinnen. Dafür zwingt sie ihn nach jedem Spiel, einen Schluck Wasser zu trinken, damit er nicht austrocknet bei der Wärme. Das ist der Deal. Trinken gegen Gewinnen. Umphorn nennt den Alten „Opa“, er nennt sie „mein kleiner Diktator“. Sie sind sich nahegekommen in den Jahren und über alle Sprachbarrieren hinweg, denn die Bedeutung der Sprache nimmt ab, wenn man die Erinnerung verliert an das, was sie beschreibt.

Für Martin Woodtli begann das thailändische Abenteuer mit einem Schicksalsschlag in Münsingen bei Bern. Seine Mutter war an Alzheimer erkrankt, und Martin Woodtlis Vater nahm sich aus Gram und Trauer, dem geistigen und körperlichen Verfall seiner Frau tatenlos zusehen zu müssen, das Leben. Den Sohn ließ er mit der Frage zurück: „Was soll ich jetzt mit der Mutter machen?“ Neun Monate pflegte Woodtli seine Mutter zu Hause, „ständig musste man aufpassen, dass nichts passiert“. Und in dieser Zeit sah er sich Pflegeheime in der Schweiz an. Aber die Art, wie man dort alte und kranke Menschen behandelt, fand er „völlig unzumutbar“. Das Personal habe zu wenig Zeit für zu viele Patienten, da würden die Alten schon mal an ihre Stühle gefesselt, damit sie nicht randalierten oder einfach davonliefen, während der Pfleger durch die Stationen hetzte. „Das wollte ich meiner Mutter nicht antun“, sagt Woodtli.

Er suchte nach einer Lösung – wie tausende Familien in Deutschland und in der Schweiz. Bis er sich an Thailand erinnerte.

Weiter auf der nächsten Seite: Warum man einen alten Baum doch verpflanzen kann

Woodtli kennt Thailand, die Kultur, die Menschen und ihre Sprache, in den 90er Jahren arbeitete er vier Jahre lang für ein Aids-Projekt der Hilfsorganisation „Ärzte ohne Grenzen“ in Chiang Mai. Und er wusste, wie Thais mit alten Menschen umgehen. „Die Jungen kümmern sich um die Alten, das ist selbstverständlich.“ Das Nachlassen von geistigen und körperlichen Fähigkeiten ist ein ganz normaler Prozess, Schrulligkeiten gehören dazu, Auffälligkeiten auch. In Thailand, so Woodtli, passe auch mal der Kellner auf den Demenzkranken auf, während dessen Pfleger am Tresen bezahle, der Umgang mit den Defiziten sei entspannt, das Alter keine Peinlichkeit.

Eine Idee reifte in seinem Kopf, nahm Besitz von ihm. Sie schien die beste aller schlechten Lösungen zu sein, und im Dezember 2003 setzte er sich mit seiner Mutter in ein Flugzeug und flog nach Thailand, gegen den Rat von Freunden und Ärzten. Sie versuchten, ihn von seinem Vorhaben abzubringen, redeten ihm zu, machten Vorwürfe. Menschen, die sich nicht mehr in ihrer gewohnten Umgebung zurechtfinden, bringe man nicht in ein Land, in dem sie sich nicht auskennen, sagten sie. „Einen alten Baum verpflanze man nicht.“ Woodtli hat die Argumente tausendfach gehört, tausendfach darüber nachgedacht und diskutiert. Mit Menschen, die es für selbstverständlich halten, billige Krankenschwestern aus osteuropäischen Ländern in die Schweiz oder nach Deutschland zu importieren, es aber moralisch verwerflich finden, sich bestmögliche Pflege im Ausland zu suchen. Er blieb bei seinem Plan – und ist heute ein gefragter Mann. Häufig bekommt er Anfragen, Angebote, Hilferufe. Von Menschen, die nicht mehr wissen, was sie mit ihren Angehörigen machen sollen. Von Geschäftsleuten, die Profite aus der Pflegemisere in der Heimat schlagen wollen. Denn so könnte die Pflege der Zukunft aussehen, für eine Gesellschaft, die immer älter wird, in der Pflegenotstand schon heute für zigtausende Familien zum Alltag gehört.

Woodtli hört sich diese Angebote an, Interesse aber hat er nicht. Es würde gegen sein Konzept der familiären Atmosphäre verstoßen. Und neue Gäste kann er auch nicht mehr aufnehmen – kein Platz, keine Zeit; Entschuldigung. Schon gibt es ähnliche Projekte, aber deren Gewinnziele kritisiert Woodtli, denen fehle die ehrliche Motivation. Er selbst verzichtet auf hohen Profit. Dass er mit seiner Frau und dem kleinen Sohn von dem, was das Heim abwirft, leben kann, reicht ihm. Finanziert wird das Heim ausschließlich durch die Beiträge der Angehörigen. Das Heim erhält weder staatliche Subventionen noch Spenden. Deutsche Krankenkassen zahlen zwar, je nach Vertragsabschluss, Krankenhauskosten in Thailand, nicht aber den Aufenthalt in Baan Kamlangchay. Etwa 2000 Euro kostet dieser betreute Urlaub in Thailand, ungefähr die Hälfte von dem, was man in Deutschland bezahlen müsste.

Woodtli ist jetzt auf dem Weg durch sein Heim. Besucht seine Gäste in ihren Häusern, sagt Hallo, schaut, ob alles läuft und wie es jedem Einzelnen geht. Schläft Justin? Was machen Manfred oder Jenny? Man redet sich hier mit Vornamen an, auch das erzeugt Nähe. Unterwegs trifft er eine 61-Jährige und ihre Betreuerin.

„Na, wo wollt ihr denn hin?“

Die Frau schaut verwundert, kichert, boxt ihrer Pflegerin in die Seite und fragt: „Was will denn dieser Herr von uns?“

Weiter auf der nächsten Seite: Zuhause in der Schweiz lästern die Nachbarn

Drei Betreuerinnen kümmern sich in drei Schichten um einen Kranken, rund um die Uhr, täglich. Die sprachliche Distanz wird mit Gestik, Mimik, Blickkontakten überbrückt, mit Berührungen, kleinen Massagen, Händchenhalten, Umarmungen. Kleine Zärtlichkeiten als Kommunikationsform. Eine Formel, um den Abstieg in das schwarze Loch, das Demenzkranke unaufhaltsam ansaugt, ein bisschen zu entschleunigen. Zuwendungen, für die in der Welt der Pflegeheime in der Heimat weder Zeit noch Geld übrig ist. „Für Europäer mag das ungewohnt klingen“, sagt Woodtli, „in Thailand ist das ganz normal.“

Bislang gab es erst zwei Todesfälle in seinem Heim. Ein freier Platz wird schnellstmöglich neu besetzt, Pfegebedürftige aus der Schweiz oder Deutschland rücken nach. Die Verstorbenen werden eingeäschert, das ist mit den Angehörigen abgesprochen. Im Frühjahr 2006 starb Woodtlis Mutter, und er ist sich sicher, dass es die richtige Entscheidung war, seine Mutter nach Thailand zu bringen. Ihre geografische Heimat habe sie nicht vermisst. „Sie hat ihre Erinnerungen mit nach Thailand genommen.“ In ihren letzten Jahren lief Margit Woodtli durch die Siedlung, als wäre sie in Münsingen. Sie besuchte den Tempel, als ginge sie in die Kirche, und auf dem Markt kaufte sie Papayas und Mangos wie einst zu Hause Äpfel und Birnen. Manchmal reiste sie zu den Anfängen ihres Lebens, glaubte, das Haus zu erkennen, in dem sie als junges Mädchen zur Schule ging. Am Ende hat sie ihren eigenen Sohn nicht mehr erkannt. „Das wäre in Münsingen wohl auch passiert.“ Woodtli sagt: „Es geht darum, dass meine Gäste noch etwas erleben, Spaß haben. Ob sie sich daran erinnern, spielt keine Rolle.“

Liselotte Mahler steht am Bett ihres Mannes Johann. Der 85-Jährige leidet an einer mittelschweren semantischen Demenz und Parkinson. Was um ihn herum passiert, nimmt er nicht mehr wahr, die Sprache ist ihm schon vor Jahren verloren gegangen. Die Krankheit ihres Mannes ist für sie das schlimme Ende eines langen und erfüllten Lebens. „Wir sind seit 56 Jahren verheiratet, und ich vermisse ihn sehr“, sagt Liselotte Mahler, die jedes Jahr zu Weihnachten für drei Monate zu Besuch kommt. Den Rest des Jahres stellt sie sich Gewissensfragen: War es die richtige Entscheidung, Johann nach Thailand zu bringen, so weit weg von der Heimat? Hätte es nicht doch ein gutes Heim in der Schweiz gegeben?

„Für den Johann ist das hier das Beste. Für mich nicht“, sagt sie. In ihrem Heimatdorf lästern die Leute. Sie hätte den Johann nur abgeschoben, um Ruhe zu haben. Jetzt, da der Johann in Thailand sei, könne sie wieder etwas unternehmen, werfe man ihr vor. Sie spüre die Blicke, das Getuschel, wenn sie durchs Dorf geht. Und wenn sie aus Asien zurückkehrt, fragen die Leute spöttisch, wie der Urlaub gewesen sei. „Aber das sind keine Ferien, ich kann mich hier nicht erholen!“ Wie lange sie die Belastung noch durchhalte, wisse sie nicht: die lange Reise, das ungewohnte Klima – „gesundheitlich geht es mir nicht mehr so gut“, sagt sie und zeigt auf ihre Gehstöcke, eine 82-jährige Dame, die zwischen den Kontinenten pendelt. Sie streicht über die Falten auf den Händen ihres Mannes, zieht mit dem Zeigefinger die Adern nach und erzählt ihm dabei von den Kindern, aber er reagiert nicht.

Während in Haus Nummer sechs der alte Herr mit Umphorn Karten spielt, spazieren zwei andere Gäste durch einen kleinen Park in Chang Mai, sitzen auf Bänken und beobachten den Sonnenuntergang. Und eine alte Dame sitzt an Woodtlis Computer in dessen Büro und telefoniert über Skype mit ihrem Neffen in der Schweiz. Sie erzählt ihm, dass sie großes Heimweh habe. Nach einer halben Stunde legt sie das Headset ab und bleibt noch ein paar Minuten regungslos sitzen.

Liselotte Mahler, die einzige Angehörige, die gerade zu Besuch ist, erlebt den Verfall ihres Mannes Johann.

Und auf der Terrasse des Baan Kamlangchay sitzen einige Gäste, essen Drachenfrüchte und Ananas und wundern sich darüber, dass es in der Schweiz in diesem Monat so warm ist.

Alle Namen geändert.

Carsten Stormer[Chaing Mai]

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