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Pflegende Angehörige: Heimliche Helfer

In Deutschland sind 2,3 Millionen Pflegebedürftige erfasst. Tatsächlich sind es jedoch doppelt so viele. Meistens kümmern sich Angehörige zu Hause um sie – darunter viele Jugendliche. Sie brauchen dringend Orientierung.

Es ist dem alten Mann so peinlich: „Ach, warum müssen Sie mich denn waschen? Das kann doch nachher meine Tochter tun!“ Es ist aber seine Tochter – er erkennt sie aufgrund einer fortgeschrittenen Demenz nicht mehr. Demenz, das belastet pflegende Angehörige wohl am meisten. Aber wie steht es um die berufstätige Alleinerziehende, die ein von Geburt an schwerbehindertes Kind versorgt? Oder um die über achtzigjährige Frau eines durch Schlaganfall Gelähmten? Und ein Ende der häuslichen Pflege ist nicht abzusehen; im Durchschnitt dauert sie acht bis zehn Jahre – ein Fulltime Job, im Schnitt 36.6 Wochenstunden, den 24-stündigen Bereitschaftsdienst mit nächtlichen Pflegeeinsätzen nicht gerechnet. Das zermürbt.

Diese enormen Pflegeleistungen werden von der Öffentlichkeit kaum wahrgenommen und gewürdigt. Um dies zu ändern, fand im Herbst im Rathaus Schöneberg die erste „Woche der pflegenden Angehörigen“ statt. Da Gesundheitssenator Mario Czaja sich als Schirmherr sehr aktiv beteiligte, steht zu hoffen, dass diese Woche der Anerkennung und Information zur ständigen Einrichtung wird.

Die Dimension der privaten Pflege zeigen offizielle Statistiken nur unvollständig. Gut 2,34 Millionen Pflegebedürftige, das sind 2,9 Prozent der Bevölkerung Deutschlands, zählte das Statistische Bundesamt Ende 2009 in seiner letzten Auflistung. Gezählt werden aber nur solche, die nach dem Pflegeversicherungsgesetz einer Pflegestufe zugeordnet wurden. 1,62 Millionen wurden zu Hause gepflegt, davon ein Drittel mit der Hilfe von Pflegediensten oder ausschließlich durch sie, zwei Drittel allein von Angehörigen. Zu diesen 2,34 Millionen kommen aber nach Schätzungen des Sozialverbandes VDK noch etwa 2,5 Millionen hinzu, die nirgends erfasst sind. Ungefähr die Hälfte ist demenzkrank, und alle werden zu Hause von Angehörigen gepflegt. In Berlin werden rund 45 000 Menschen mit Pflegestufe und 25 000 ohne sie zu Haus versorgt. Beteiligt daran sind mehr als 170 000 Personen. Der Gesundheitssenator nennt es „den größten Pflegedienst Berlins“.

Wer sind eigentlich die „pflegenden Angehörigen“? Durchaus nicht immer Verwandte, sondern auch Freunde oder Nachbarn, und ganz überwiegend Frauen, oft Töchter oder Schwiegertöchter, die selbst schon sechzig bis siebzig sind. Und Kinder. Von diesen Kindern und Jugendlichen, die ein Familienmitglied mit- oder gar allein pflegen, weiß keine Statistik und auch sonst fast niemand. Aber es müssen viele sein, etwa 225 000 in Deutschland. Das schätzt, durch Rückschluss aus internationalen Daten, Christel Bienstein, Leiterin des Departments für Pflegewissenschaften der Universität Witten-Herdecke. Dort untersuchte man fast sieben Jahre lang die Situation pflegender Kinder und Jugendlicher. Bei diesem Forschungsvorhaben fand man auch heraus, warum die pflegenden Kinder so unbekannt sind: Sie haben Angst, ins Heim oder in eine Pflegefamilie zu kommen und so ihre eigene Familie zu verlieren. „Diese Angst ist nicht unbegründet“, schreibt Bienstein in der von ihr herausgegebenen Zeitschrift mit dem doppeldeutigen Titel „Angehörige pflegen“, Ausgabe 3/2012. „In Gesprächen mit Leitern von Jugendämtern kamen diese zuerst immer auf die Idee, die Kinder in Pflegefamilien zu geben.“

Ein Beispiel für die Selbstverständlichkeit, mit der Kinder die Pflege eines kranken Elternteils übernehmen: Die vierzehnjährige Tochter eines Vaters mit fortgeschrittener Multipler Sklerose erzählte der Pflegeforscherin Sabine Metzing: „Es kommt immer etwas dazu, so wie die künstliche Ernährung oder der Katheter oder so, es wird immer mehr gemacht, und man nimmt es einfach so an und macht es dann.“ Natürlich sind diese Kinder überfordert und brauchen dringend Unterstützung, mehr noch als die erwachsenen pflegenden Angehörigen. Die körperlichen und seelischen Belastungen dieser Pflegenden und ihre gesundheitlichen Folgen werden seit etwa zwei Jahrzehnten erforscht. Die Ergebnisse fasst Adelheid Kuhlmey, Leiterin des Instituts für medizinische Soziologie der Charité, so zusammen: Die ständige Erschöpfung vieler Pflegender führt sehr oft zu psychosomatischen Störungen, zu Nervosität, Kopf- und Magenschmerzen, depressiven Verstimmungen und Schlafstörungen. Auch die Widerstandskraft gegen Infektionen ist herabgesetzt. Von Herz-Kreislaufleiden und Krankheiten des Stütz- und Bewegungsapparates sind etwa 40 Prozent der Pflegenden betroffen. Unter den Frauen leiden drei von vier an Rückenschmerzen, viele sogar an Bandscheibenvorfällen, auch Osteoporose ist häufig.

Pflegende Angehörige müssten also auch mit der eigenen Gesundheit pfleglicher umgehen. Aber das Forschungsprojekt „Gesundheitsförderung für ältere pflegende Angehörige“ an dem von Adelheid Kuhlmey geleiteten Institut ergab, dass nur sehr wenige den dabei angebotenen Kurs zur Gesundheitsförderung wahrnehmen. Was sie hingegen unbedingt brauchen, sind bessere Informationen, denn gerade in Berlin gibt es zahlreichen Entlastungsmöglichkeiten – fast zu viele, denn durch diesen „Dschungel“ steigen selbst Experten nicht immer durch. Die nachfolgend genannten Ansprechpartner können zumindest Orientierung bieten.

Gebührenfreies Telefon aller Berliner Pflegestützpunkte: 0800/5950059

Datenbank der Pflegestützpunkte mit Informationen, Adressen, Beratungsmöglichkeiten: www.hilfelotse-berlin.de

In den Pflegestützpunkten sind kostenlose Ratgeber-Broschüren erhältlich, etwa: „Was ist, wenn ...? 22 Fragen zum Thema Häusliche Pflege“. In den Bürgerämtern liegt die Broschüre „Angebote für pflegende Angehörige“ aus. Beide bieten viele Informationen und Adressen. Verschiedene nützliche Ratgeber haben auch die Verbraucherzentralen herausgegeben.

Ein Standardwerk ist „Pflege zu Hause – Rat und Hilfe für den Alltag“, herausgegeben von der Stiftung Warentest (Autorin: Sabine Keller), 2012 in 3. aktualisierter Auflage erschienen (16,90 €)

Als Entscheidungshilfe wertvoll ist der Stern-Ratgeber „Pflege daheim oder Pflegeheim?“ von Andrea und Justin Westhoff (Linde-Verlag 2012, 9,90 €)

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