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Gesundheit: Platz da!

Noch nie waren die Seminare so voll wie in diesem Semester. Einige Studierende begehren auf

In Hamburg bringt der BWL-Student mit Bodenaversion bereits seinen eigenen Stuhl mit. An den Berliner Universitäten ist es so weit noch nicht, hier setzt man sich normalerweise einfach auf die Erde. Die missliche Lage, egal ob hockend, sitzend oder stehend bewältigt, hat eine ähnliche Ursache: Die Lehrveranstaltungen platzen aus allen Nähten. In Seminaren – nicht Vorlesungen! – treten sich gut und gerne hundert Studierende auf die Füße. Normaler Seminarablauf, meist in der Reihenfolge Referat, Fragerunde und Diskussion, ist schlichtweg unmöglich.

Dabei sind die ohnehin massenabgefertigten Studierenden der Wirtschafts-, Sozial- und Kulturwissenschaft, der Psychologie und Germanistik schon einiges gewöhnt. Dieses Wintersemester, so scheint es, sind die Lehrveranstaltungen jedoch noch vollgepfropfter als sonst. Die Studierenden sind genervt, die Dozenten ebenfalls. Alles nur Gejammer oder stimmt der Eindruck?

Ein Beispiel: Am Otto-Suhr-Institut der Freien Universität begehren jetzt die Studierenden gegen die lern- und lehrunfreundlichen Bedingungen auf, per Umfrage werden die Kommilitonen aufgefordert, die Fülle ihrer Seminare zu beziffern. Aktionen sollen folgen. Gerhard Göhler, geschäftsführender Direktor des Instituts, kennt die Zahl schon: 60 Studenten besuchen im Durchschnitt ein Seminar. „Nie weniger als 40, oft mehr als hundert“, erklärt er resigniert. Normal sind etwa 30 Studierende. Aber was ist in Zeiten leerer Kassen schon normal?

„Besonders im Grundstudium ist die Situation unerträglich, reguläre Lehrveranstaltungen sind kaum noch möglich“, weiß Göhler aus eigener Erfahrung. Auch in den Seminaren seines Kollegen Elmar Altvater drängeln sich 110 bis 120 Studierende. Der Numerus clausus liegt derzeit bei 1,6 – nur ein Viertel der 800 Bewerber wird zugelassen.

Den Numerus clausus umgehen

Die Beschränkung erweist sich jedoch als Bumerang: Wer nicht reinkommt, schreibt sich kurzerhand in einem nicht zulassungsbeschränkten Fach ein – und studiert trotzdem Politik. Später bewirbt er sich dann als Quereinsteiger und hat ganz legitim die Hürde des Numerus clausus umgangen. Derzeit kommen auf 3700 (offiziell) Studierende 19 Professoren. Kurz: ein Professor betreut knapp 200 Studierende – die „Schwarzstudierer“ nicht miteingerechnet. Für die nächsten Jahre ist sogar noch eine Kürzung auf 14 Professuren geplant. 45 hatte das Institut einmal.

„Wir wissen nicht mehr, wohin mit den Studierenden“, stöhnt der Institutsdirektor. Wie das Otto-Suhr-Institut kämpfen derzeit viele Fachbereiche um ihren Bestand. Trotzdem sinke die Zahl der Mitarbeiter stetig, berichtet Wolfgang Röcke von der Universitätsverwaltung der FU, während die Studierendenzahl annähernd unverändert bleibe, ja sogar leicht zunehme. „Das Betreuungsverhältnis hat sich verschlechtert.“

Am schlechtesten ist das Betreuungsverhältnis an der FU in der Soziologie. 219 Studenten kommen hier auf einen Professor. In der Germanistik sind es 212 Studenten, bei den Juristen 184. Im Gesamtdurchschnitt betrachtet: Betreute 1960 noch ein Professor an der Freien Universität 64 Studenten, sind es inzwischen 75. Der bundesweite Schnitt liegt bei 59.

Als Reaktion wurden die Numerus-clausus-Fächer an allen drei Berliner Universitäten ausgeweitet. Allein 62 Studiengänge an der Humboldt-Universität wurden in diesem Wintersemester nach der Abiturnote vergeben. Die allgemeine Tendenz: zunehmend.

Die Technische Universität kennt ähnliche Sorgen: Während sich in den vergangenen neun Jahren die Professuren von 620 auf 370 um mehr als ein Drittel reduziert haben, sind die Studierendenzahlen nur um ein Viertel auf heute 28 300 zurückgegangen. Die Betreuungsrelation von Professor zu Studierenden hat sich von eins zu 60 auf eins zu 77 verschlechtert – damit einher geht auch eine Verknappung des wissenschaftlichen Personals, kurz: des Lehrangebots.

Gleichzeitig wollen aber neuerdings immer mehr Abiturienten an der Technischen Universität studieren. Besonders die Ingenieursstudiengänge erleben einen Boom. „Wir werden zugeschüttet mit Studenten, und grundsätzlich freut uns das“, sagt Patrick Thurian von der Univerwaltung. Langfristig müssten aber Mitarbeiterstellen in den nächsten Jahren noch weiter abgebaut werden. Folge: Weniger Studierende können aufgenommen werden.

Fatale Entwicklungen

In Zeiten steigender Bewerberzahlen und einer von der Bundesregierung angestrebten Erhöhung der Studierendenquote ist diese Entwicklung fatal. An der Humboldt-Universität bewarben sich beispielsweise für die 85 Plätze im Studiengang Kulturwissenschaft über 1200 Interessierte. Wer nicht genommen wird, besucht oft trotzdem Seminare und hofft auf eine Chance im nächsten oder übernächsten Semester.

Gleichzeitig steigt auch hier, wie an der TU, die Betreuungsrelation. Bald wird es also heißen: Wegen Überfüllung geschlossen. Wer trotzdem noch ernsthaft studieren will, sollte sich schon mal nach Klappstuhl und Opernglas umsehen.

Juliane von Mittelstaedt

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