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Gesundheit: Polen kommt

Intellektuelle Aufbruchstimmung: Deutschlands Nachbar mausert sich zu einem ernst zu nehmenden Konkurrenten

Mit Stolz und Optimismus präsentieren Rektoren und Führungskräfte polnischer Wissenschaftseinrichtungen ihre neu entstehenden Universitätscampi und -errungenschaften. Zum Beispiel das gerade fünf Jahre alte Bibliotheksgebäude der Universität Warschau: eine lichtdurchflutete Stahl-Glas-Beton-Konstruktion. Oder den entstehenden Neucampus in Krakau und die weitläufigen Gebäude der naturwissenschaftlichen Fachbereiche in Posen. Ein Foucaultsches Pendel zeigt Geschichte und Weltläufigkeit zugleich, und der Rektor deutet auf umliegendes weites Brachland: Hier wird eines Tages der Campus der Universität konzentriert sein.

Keine Frage, für Deutschland wächst hier ein starker Konkurrent heran. Seit dem Zusammenbruch des Sozialismus sind die Studierendenzahlen in Polen sprunghaft gestiegen: Waren es 1980 nur 380000, so studieren heute über zwei Millionen junge Polen. Ungefähr genauso viel Studenten hat Deutschland, nur dass Polen lediglich 30 Millionen und nicht 80 Millionen Einwohner hat. Weitere 200000 Interessenten warten auf einen Studienplatz. Die demographische Katastrophe, vor der Deutschland mit viel zu geringen Studierendenzahlen steht – die Hälfte eines Altersjahrgangs müsste studieren, um den Rückgang der hoch qualifizierten Erwerbsbevölkerung aufzufangen –, wird Polen nicht ereilen.

Der intellektuellen Aufbruchstimmung widerspricht allerdings die ökonomische Ausstattung der Hochschulen im Alltagsbetrieb, jenseits der großen Campusprojekte. In zehn Jahren ist der Wissenschaftshaushalt um ein Drittel geschrumpft. In die entstehende Versorgungslücke stürzen sich deshalb private Initiativen. Zurzeit gibt es 275 private und 128 staatliche Hochschulen. Bereits ein Viertel der Studierenden besuchen private Hochschulen, deren Angebot von unterschiedlicher Qualität ist.

Schwerpunktmäßig handelt es sich um Studiengänge in den Wirtschaftswissenschaften; ein Viertel aller polnischen Hochschüler(innen) studieren ein wirtschaftswissenschaftliches Fach. Die Zeichen sind auf Privatwirtschaft und Markt gesetzt. Erfolgreiche Privathochschulen wie die Leon-Kozminski-Hochschule für Business und Management in Warschau haben daraus klare Konsequenzen gezogen. Sie bieten nicht nur englisch-sprachige Studiengänge wie viele staatliche Hochschulen an, sondern auch einen deutschsprachigen Master - im Advisory Board sitzen folglich auch deutsche Manager. Dennoch ist die deutsche Sprache in die zweite Position gerückt. 62 Prozent aller polnischen Schüler lernen englisch, nur noch 34 Prozent deutsch.

Obwohl die polnische Verfassung eigentlich ein unentgeltliches Studium garantiert, zahlt faktisch die Hälfte der Studierenden Gebühren, durchschnittlich 700 Euro im Jahr. Sie investieren ihr Geld zur Steigerung ihrer Arbeitsmarktchancen in Zusatz-, Wiederholungs-, Fern- oder Abendstudien.

Die junge Generation hat verstanden: Ihre einzige Zukunft liegt in ihren Köpfen. Deshalb studieren viele Polen auch im Ausland, davon in Deutschland zurzeit 8000. Neben den Hochschulen existiert eine Akademie der Wissenschaften mit 80 Instituten in Warschau, die Forschungsaufgaben wahrnimmt, welche in Deutschland insbesondere durch Max-Planck-Institute erfüllt werden.

Deutsche Hybris könnte es nahe legen, zwischen deutschen und polnischen Studien ein qualitatives Gefälle zu sehen. Doch die polnische Regierung kennt diesen Einwand und hat ein rigides Standardisierungsprogramm ins Leben gerufen: 50 bis 60 Prozent aller Hochschulinhalte werden vom Staat standardisiert.

Strikte Evaluationen des Hochschulbereichs mit negativen Sanktionen sind dagegen in Deutschland noch die Ausnahme. Polens Bildungsminister Szulc weist auch darauf hin, dass Polen den Bologna-Prozess der Umstellung auf Bachelor- und Master-Studiengänge von Anfang an konsequent verfolgt habe. Auch hier ist Polen in Europa angekommen.

Den möglichen Verdacht, über die Akkreditierung schlügen zentralistische Tendenzen durch, kann der Minister entkräften. Die Hochschulautonomie ist im europäischen Vergleich in Polen am Weitesten fortgeschritten. Die Einrichtungen werden über Zielvorgaben gesteuert. Die Rektoren entscheiden in allen Angelegenheiten zwar in Abstimmung mit dem Akademischen Senat. In diesem sind die Statusgruppen aber nach einem Schlüssel vertreten, der den Verantwortlichen genügend Handlungsspielraum gestattet: die Professoren mit 55 Prozent, wissenschaftliche Mitarbeiter mit 25 Prozent, Studierende mit 15 Prozent und sonstige Mitarbeiter mit fünf Prozent.

Einen sehr positiven Anteil der deutsch-polnischen Zusammenarbeit kann der Deutsche Akademische Austauschdienst (DAAD) für sich beanspruchen. Die Außenstelle in Warschau hat es vermocht, ein dichtes Netzwerk zwischen deutschen und polnischen Wissenschaftlern zu etablieren. Der Bedarf hält an. Insbesondere fehlen deutsche Stipendien für junge Polen. Immerhin kann der DAAD auf zwei Stipendiaten verweisen, die polnische Ministerpräsidenten wurden.

Die Bedeutung solcher Arbeit kann gar nicht überschätzt werden, denn die deutsch-polnische Aussöhnung hat noch einen langen Weg vor sich, auf dem den Intellektuellen und jungen Akademikern eine besondere Rolle zukommen wird. Der Autor ist Präsident der Freien Universität Berlin und soeben von einer Reise durch polnische Universitätsstädte zurückgekehrt.

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