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PROF. TSOKOS ermittelt: Hilfe über den Tod hinaus

Von Michael Tsokos

Wir Rechtsmediziner müssen uns von Laien oft Vorwürfe anhören: Eure Patienten profitieren doch nicht mehr von eurer Arbeit, ihr bekommt gar kein Feedback. Das müsse doch ein ziemlich frustrierendes Gefühl sein. Tatsächlich nützt unsere Arbeit aber ziemlich vielen Menschen. Zum einen den Hinterbliebenen, die über Todesumstände und -ursachen des Verstorbenen aufgeklärt werden. Zum anderen der Gesellschaft, die durch unsere Mithilfe bei strafrechtlichen Ermittlungen vor Gewalttätern geschützt wird. Insofern verspüren wir oft eine große Genugtuung und professionelle Befriedigung.

In einem konkreten Fall konnten die Angehörigen eines plötzlich verstorbenen Mädchens unmittelbar von unserer Arbeit profitieren. Die 16-Jährige war während einer Klassenfahrt nach Berlin bewusstlos zusammengebrochen. Ein Notarzt versuchte zwei Stunden, sie zu reanimieren. Ohne Erfolg. Das Mädchen verstarb im Krankenhaus. Weil ein plötzlicher Tod eines scheinbar gesunden Menschen in so jungem Alter sehr ungewöhnlich ist, bestand zunächst der Verdacht, das Mädchen könne Drogen genommen haben. Auch über eine Meningitis wurde spekuliert, da die Schülerin kurz vor ihrem Ableben über Nackenschmerzen geklagt hatte. Als sie bei uns auf dem Sektionstisch lag, fielen mir zuerst ihre ungewöhnlich langen und dünnen Finger auf. Zudem hatte sie eine Trichterbrust. Wie die Obduktion ergab, war sie innerlich verblutet, weil die Brustschlagader eingerissen war – ohne äußere Gewalteinwirkung. Diese Indizien sprachen dafür, dass das Mädchen am Marfan-Syndrom erkrankt war. Dabei ist das Bindegewebe durch eine Chromosomenmutation sehr elastisch. In der Folge erweitern sich die Blutgefäße ohne entsprechende Behandlung so weit, dass sie reißen.

Ein genetisches Gutachten bestätigte den Verdacht. Offenbar litt die Schülerin am Marfan-Syndrom, ohne dass es je ein Arzt festgestellt hatte. Wäre die Erkrankung frühzeitig entdeckt und beobachtet worden, hätte sie gerettet werden können, indem ein Teil des überdehnten Blutgefäßes durch ein künstliches ersetzt wird. Deshalb setzten wir uns über die Staatsanwaltschaft mit den Eltern in Verbindung. Da sie weitere Kinder hatten, bestand die Möglichkeit, dass auch diese erkrankt waren, ohne es zu wissen. Die Kinder wurden untersucht. Glücklicherweise waren sie aber nicht Träger der Mutation.

Den Hinterbliebenen trotz Schmerz und Verlust doch noch helfen zu können, hinterlässt bei uns Rechtsmedizinern alles andere als frustrierende Gefühle.

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