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PROFESSOR TSOKOS ermittelt: Wenn Kinder Opfer werden

Der Leiter der Berliner Rechtsmedizin über die Aufklärung und das Ausmaß von Kindesmisshandlungen.

Bei unserer Arbeit gibt es oft genug Momente, in denen wir uns tatsächlich vorkommen wie in einem schlechten Film – etwa wenn es um Kindesmisshandlungen geht. Wir haben es dabei mit allen Schweregraden zu tun. Manchmal fällt einem Kita-Betreuer eine ungewöhnliche Verletzung auf, die er dem Jugendamt meldet, das sich dann an uns wendet. Oder es kommt vor, dass Eltern mit einem komatösen Kind in ein Krankenhaus kommen und vorgeben, es sei plötzlich apathisch geworden, habe aufgehört sich zu bewegen. In solchen Fällen ist unsere Fachkenntnis gefragt.

In der Regel werden wir hinzugerufen, wenn sich die dokumentierten Verletzungen nicht auf den von den Eltern geschilderten Unfallhergang zurückführen lassen oder der Verdacht eines Schütteltraumas besteht. Letzteres können wir durch eine Computertomografie oder bei einer Ultraschalluntersuchung zweifelsfrei diagnostizieren. Durch das Schütteln kommt es zu Einblutungen unter der harten Hirnhaut, weil der Kopf peitschenartig vor- und zurückgeschleudert wird. Der kindliche Kopf ist im Verhältnis zum restlichen Körper sehr schwer, die Nackenmuskulatur ist noch nicht voll ausgebildet. Durch die abrupten Abbremsbewegungen reißen im Schädelinneren Gefäße, das führt zu Blutungen. Was viele Eltern nicht wissen: Schon durch das einmalige Schütteln eines Säuglings kann dieser sterben oder sein Leben lang behindert sein.

Häufig kommt es vor, dass wir bei solchen Untersuchungen Hinweise auf frühere Gewalteinwirkungen finden, zum Beispiel unterschiedlich alte verheilte Rippenfrakturen. Wir stellen auch immer wieder nicht behandelte und dadurch schlecht abgeheilte Brüche an Armen und Beinen fest. Im Grunde ist Kindesmisshandlung eine „chronische Krankheit“. Sie ist in der Regel kein einmaliges Ereignis, sondern kommt immer wieder vor. Meist sind die Täter sehr junge Eltern, insbesondere Väter. Oder der neue Partner der Kindsmutter, der selbst keine Erfahrungen im Umgang mit Kindern hat. Im vergangenen Jahr machte etwa der Fall eines Kindes Schlagzeilen, das offenbar so schwer misshandelt worden war, dass es an seinen Verletzungen starb. Bei der Obduktion dokumentierten wir Hämatome, Verletzungen durch Schütteln sowie einen nicht behandelten Rippenbruch. Im Verdacht stand der Lebensgefährte der Mutter - er wurde inzwischen aber freigesprochen.

Pro Jahr untersuchen wir etwa 90 Kinder, angefangen bei Neugeborenen bis hin zu Teenagern. In den meisten Fällen bestätigt sich der Verdacht auf Misshandlung. Zudem obduzieren wir jährlich ungefähr 30 Kinder, die aber nicht zwingend Opfer von tödlich ausgegangener Misshandlung sein müssen – sie können auch an einem Infekt, einem nicht erkannten Herzfehler oder am plötzlichen Kindstod gestorben sein. Letzterer muss unbedingt gründlich untersucht werden. Es sind genug Fälle bekannt, in denen ein Hausarzt stutzig wurde, weil in einer Familie mehrere Babys am plötzlichen Kindstod starben. Weil jedoch gerade Schütteltraumata oder Ersticken spurenarme Tötungsdelikte sind, kann man sie äußerlich nicht vom plötzlichen Kindstod unterscheiden.

Menschen, die Kinder misshandeln, haben meist selbst schwerwiegende Probleme. Für sie ist Misshandlung ein Ventil, mit dem sie Druck ablassen. Diese Eltern brauchen Hilfe. Babys wachen nun einmal nachts auf und weinen, durch Übermüdung kommt man da schnell an den Rand seiner Belastbarkeit. Da ich selbst zwei Söhne habe, weiß ich, dass Babygeschrei auch manchmal nervig sein kann. Mit Schütteln beruhigt man Kinder aber nicht. Auch nach mehr als zehn Jahren Berufserfahrung als Rechtsmediziner bin ich immer wieder erschüttert, wenn wir misshandelte Kinder untersuchen müssen – egal, ob sie noch leben oder schon tot sind.

Michael Tsokos

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