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Gesundheit: Reisen bildet

Bremer Migrantenkinder holten im Sommercamp beim Lesen gewaltig auf. Das sollte Schule machen, sagen Bildungsforscher

Das Kind ist zehn und kann nicht fließend lesen, aber es soll bald aufs Gymnasium. Im Ferienhaus an der Ostsee sitzt es jeden Nachmittag mit seinem Vater auf der Terrasse und übt. Für jedes Stocken gibt es einen Klaps auf den Hinterkopf. Norddeutschland in den 70er Jahren, pädagogisches Mittelalter.

Szenen- und Zeitenwechsel – nach Bremen, Sommer 2004: Cynthia ist das Verb. Wird ein Satz von der Aussage zur Frage umgebaut, laufen die anderen Kinder mit Wortkarten in der Hand um die Zehnjährige herum und stellen sich neu auf. Cynthia bleibt stehen. „Das Verb ist der Chef“, sagt die Lehrerin zu Cynthia, die nickt stolz. Die Kinder verstehen den Sinn von Grammatik, wenn sie die Struktur der Sprache erkennen und können dadurch auch fließender lesen, erklärt Petra Stanat vom Berliner Max-Planck-Institut für Bildungsforschung. Linguistisch fundierter Deutschunterricht sei die beste Sprachförderung. Ein einleuchtendes Modell – aber in den Sommerferien?

Tatsächlich haben Cynthia und knapp 150 weitere Bremer Drittklässler aus Familien mit Migrationshintergrund den vorbildlichen Deutschunterricht vor einem Jahr in einem dreiwöchigen Sommercamp genossen. Mit im Schullandheim waren Lehrerinnen, die Deutsch als Zweitsprache (DAZ) unterrichten, Theaterpädagoginnen, Erzieher und Bildungsforscherinnen.

Camp-Sprache war – anders als in den Familien der meisten Kinder – Deutsch: auch beim Workshop zum Thema „Die Kofferbande. Eine Reise ins Land der Sprache und des Theaters“ und beim gemeinsamen Spielen und Essen. Schriftliche und mündliche Deutschtests, die jetzt am Max-Planck-Institut ausgewertet wurden, zeigen: Nach wenigen Wochen Sprachförderung können benachteiligte Kinder in ihrer Lesefähigkeit einen großen Sprung nach vorn machen. Die Lesefähigkeit gilt als wichtigste Voraussetzung für den weiteren Schulerfolg auch in anderen zentralen Fächern. Und seit der ersten Pisa-Studie weiß man: Beim Lesen und Verstehen von Texten haben Schüler in Deutschland besonders schlecht abgeschnitten. Zudem versagt die deutsche Schule im internationalen Vergleich dabei, den Rückstand aufzuholen, den vor allem Kinder aus Migrantenfamilien haben.

Das Deutsch-Feriencamp sei einer von vielen Versuchen, die Lernbedingungen in Bremen so zu verändern, dass das Land vom letzten Platz unter allen Bundesländern bei Pisa 2000 aufsteigt, sagt Bremens Bildungssenator Willi Lemke (SPD). Finanziert von der Jacobs-Stiftung startete ein in Deutschland bislang einmaliges Experiment in der deutschen Bildungsforschung: Anders als in allen pädagogischen Versuchen zuvor gab es neben den 150 Camp-Kindern eine 82-köpfige Vergleichsgruppe von Drittklässlern, die vor und nach den Ferien in Deutsch getestet wurden, ohne extra gefördert zu werden. Und im Camp nahm knapp die Hälfte der Kinder nicht an den DAZ-Stunden teil. Man wollte herausfinden, ob auch allein der Theaterworkshop ausreiche, um die Kinder in Deutsch fit zu machen.

Nach den Tests stand fest: Alle Kinder, die im Camp waren, hatten soziale Kompetenzen hinzugewonnen – und Selbstbewusstsein. Schließlich endete das Camp nach einer zusätzlichen eineinhalbwöchigen Probenzeit in einem Bremer Theater mit einer Aufführung des selbstentwickelten Stücks „Die Kofferbande“. Ein Riesenerfolg vor Eltern und Geschwistern.

Die sprachlichen Fähigkeiten verbesserten sich messbar allerdings nur bei den Kindern, die im Sommercamp am Deutschunterricht teilgenommen hatten. Unmittelbar nach den Ferien konnten die Kinder deutlich besser lesen und die Grammatik besser anwenden als zuvor. Ein weiterer Test nach drei Monaten zeigte allerdings: Während die Lesefähigkeit gleichbleibend gut war, sanken die Grammatikkenntnisse wieder ab. Dafür verantwortlich sei offenbar der herkömmliche Deutschunterricht, sagt Bildungsforscherin Stanat: Grammatik wird von den meisten Lehrern zwar unterrichtet, aber nicht nach den linguistisch fundierten Methoden der DAZ-Lehrerinnen, die im Camp unterrichtet haben.

Das Dilemma der Deutschlehrer: In der Regel spezialisieren sie sich während des Germanistik-Studiums auf Literaturwissenschaft; die wenigsten haben überhaupt die sprachwissenschaftliche Kompetenz, den Schülern die Struktur der Sprache zu vermitteln. Zumindest in Bremen versucht man jetzt, jene Lehrer linguistisch fortzubilden, die Förderunterricht für Migrantenkinder geben.

Die Pädagogen und Bildungsforscher wollten mit dem Sommercamp auch testen, ob solche Angebote überhaupt eine Chance haben, angenommen zu werden: Würden die Schüler akzeptieren, in den Ferien nicht nur Spaß zu haben, sondern auch täglich zwei Stunden intensiven Unterricht zu machen? Würden die Eltern, darunter auch viele muslimische, es zulassen, dass ihre Kinder mit fremden Betreuern zwei Wochen täglich ins Schullandheim fahren und in der dritten Woche sogar dort übernachten? Die Antwort überraschte Forscher und Politiker: Das Camp war ausgebucht, ebenso wie die zweite Runde in diesem Sommer – mit 200 Kindern aus Bremen und Bremerhaven.

Noch eine klassische Fragestellung der Bildungsforschung sollte geklärt werden: Gibt es auch in Deutschland den in den USA beobachteten Effekt, dass Kinder aus sozial schwachen Milieus Lernzuwächse aus dem Schuljahr während der langen Sommerferien wieder einbüßen? Hier hat die Vergleichsgruppe, die nicht am Camp teilnahm, gezeigt: Sechs Wochen Ferien sind kurz genug, um den Schulstoff frisch zu halten. Das wichtigste Ergebnis des Experiments bleibt jedoch: Drei Wochen Unterricht, Theater und Spiel mit der deutschen Sprache sind lang genug, um Defizite aus den ersten drei Schuljahren aufzuholen.

Nicht nur zur Ferienzeit sei das möglich, betont Max-Planck-Bildungsforscher Jürgen Baumert, der das Experiment mitgestaltete und auswertete. Viele der Effekte wären auch im Nachmittagsunterricht an ganz normalen Ganztagsschulen zu erzielen. Ein Appell, über den Schulleiter und Lehrer in den Sommerferien nachdenken sollten.

Mehr Informationen im Internet:

www.mpib-berlin.mpg.de/de/forschung/eub/projekte/jacobs_sommercamp.htm

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