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Gesundheit: Rhetorik-Wettbewerb: Blödeln, werben, therapieren

Rhetorik ist nicht nur die Kunst der Rede. Zu ihr gehört auch die Kunst der Debatte und die des Gesprächs.

Rhetorik ist nicht nur die Kunst der Rede. Zu ihr gehört auch die Kunst der Debatte und die des Gesprächs. Wie ist es darum hier zu Lande bestellt? Internet-Foren treten an die Stelle des Gelehrtengesprächs, Talkshows nehmen den Platz ein, der früher dem Tisch- oder Kamingespräch zukam. Familien sitzen schweigend beisammen und lassen sich per Bildschirm elegante Konversation, unbedarfte Blödeleien oder verbale Aggression anderer vorführen. Ist uns das Gespräch abhanden gekommen?

Zum Thema Online Spezial: Der Tagesspiegel-Rhetorikwettbewerb Sorgentelefone werden allenthalben eingerichtet. Ungestillt scheint die Sehnsucht nach dem Gespräch. Doch scheint sie sich aus schierem Leidensdruck in Anonymität Bahn brechen zu müssen. Haben wir unsere Gesprächskultur verloren? Begriffe wie Dialog und Kommunikation erfahren verräterische Umdeutungen. Slogans wie "Chemie im Dialog" oder "Politiker im Dialog" meinen eigentlich die Vermittlung der Anliegen bestimmter Gruppen an die Öffentlichkeit und gerade nicht das unbequeme Aushandeln widersprüchlicher Interessen. Noch nie war von Dialog und Kommunikation so viel die Rede wie heute. Waren diese Begriffe aber jemals so sinnentleert?

Wer heute einen skeptischen Blick auf unsere Kommunikationsverhältnisse wirft, ist leicht versucht zurückzuschauen. Man denkt an die sokratische Ironie, an Selbstbescheidung und Konzilianz, an die Hebammenkunst der Lehrgespräche, an die Heiterkeit der griechischen Symposien ... Dabei stellt sich rasch Ernüchterung ein. Denn sehr dialogisch ist das berühmte Vorbild nicht: Phaidros sagt wenig mehr als "nein, beim Zeus", "ganz recht" oder "es sei, wie du sagst". Es wird berichtet, dass auch in der Antike das freie Gespräch durch degenerative Neigungen zurückgedrängt wurde, die wir heute als Phänomene der postmodernen Erlebnisgesellschaft bezeichnen würden: Würfelspiel und allerlei Vorführungen nahmen in den Symposien einen immer größeren Raum ein.

Es ist der Antike jedoch zu verdanken, dass sie uns ein freundliches, humanes Ideal der ars sermonis überliefert hat. Die höfische Umgangslehre der Renaissance und auch des französischen 17. Jahrhunderts wendet sich dagegen vom Wunschbild des zwanglosen, gleichwohl fairen Gesprächs ab und propagiert statt dessen Gewandtheit, Stilisierung, Taktieren. Aber die Gegenbewegung lässt nicht auf sich warten: Die Kultur der französischen Salons fußt auf dem Ideal der Einfachheit (simplicité). Conversation bedeutet die Kunst spontaner Assoziation, sie lässt Witz und Respektlosigkeit zu.

Die Tiefenwirkung des ungeselligen Pietismus auf deutsche Gesprächsgepflogenheiten ist nicht zu unterschätzen. Ideale wie Weltfrömmigkeit, Nützlichkeit, Richtigkeit, Wahrhaftigkeit und Vollständigkeit bilden sich als Etikette deutsch-bürgerlicher Gesprächskultur, auch unter Absetzung von der lange dominierenden Kultur Frankreichs, heraus. Madame de Staël formulierte diese Besonderheit zurückhaltend, indem sie auf beiden Seiten Nachteile erkannte: "Die Deutschen begehen häufig die Ungeschicklichkeit, in die Konversation einfließen zu lassen, was nur in Bücher gehört; die Franzosen begehen dagegen die Ungeschicklichkeit, in ihre Bücher zu tun, was nur in die Konversation gehört."

In Absetzung von der Tradition des Säbelrasselns und des Kasernenhoftons haben der funktionierende Parlamentarismus der Nachkriegszeit, die politische und kulturelle Westbindung und die Zäsur der 68er Jahre die Instrumente zivilisierter, verbaler Konfliktbewältigung wie Debatte, Diskussion, Verhandlung und Aushandeln in erfreulichem Maße in Deutschland verankert. Insbesondere die Kulturrevolution von 1968 hat durch radikale Enttabuisierung viele heikle und unbequeme Themen buchstäblich zur Sprache gebracht. Trotzdem blieb die Kulturrevolution manchen deutschen Traditionen verhaftet: Nach anfänglicher Offenheit setzte sich in den Seminarzirkeln und Sekten eine gnadenlos eingeschränkte und streng kontrollierte Rhetorik durch. Doch trotz aller Irrtümer und Irrwege hat jene Bewegung mit ihrem Glauben an Wort, Diskussion und Gespräch eine für deutsche Verhältnisse neuartige und wichtige inhaltliche Voraussetzung für die Kommunikationsgesellschaft geschaffen: Die Maxime "Man kann über alles reden".

Das Wirtschafts- und Berufsleben hat sich diese neue Gesprächsbereitschaft zu Nutze gemacht und auf seine Anforderungen zugeschnitten. Kommunikation ist zu einem der Schlüsselwörter des modernen Managements avanciert. Dialogbereitschaft gilt als grundlegende Führungsqualität - sicher ein Fortschritt gegenüber früheren autoritären Führungsprinzipien. Allerdings haben Gespräche in der Wirtschaft wenig mit den Konversationsidealen vergangener Zeiten gemein. Im Ton verbindlich, sind sie streng ziel- und zweckorientiert. Rollen, Themen und Dauer sind fixiert. Im Unterschied zur frei kreisenden oder sich in Wellenbewegungen entwickelnden Konversation sind diese Gesprächsformen linear. Mit einer Ausnahme jedoch: dem "Brainstorming". Aber kann man mehr vom berufsorientierten Gespräch verlangen?

Wir erleben derzeit eine Phase intensiver kommunikativer Differenzierung und Arbeitsteilung. Die Verständigung zwischen den immer enger zu definierenden Generationen, Szenen und Milieus erfordert die Bereitschaft zu Übersetzungsanstrengungen. Gleichzeitig breiten sich neue Berufszweige und Kommunikationswege aus. Legionen von Psychotherapeuten bieten das vertraulich persönliche Gespräch an, Philosophen drängen immer erfolgreicher auf den Markt der Sinnfindungsberatung. Führt dies tendenziell zu einer Zielgruppengesellschaft, deren Bindekraft fragwürdig wird?

Es ist fraglich, ob das Ideal der beziehungsintensiven und dauerhaften Gemeinschaft in Zeiten der Globalisierung und Mobilität überhaupt realistisch ist. Angemessener ist die Vorstellung von flexiblen und kurzlebien Gruppenbildungen, die durchaus intensiven Austausch fördern können. Voraussetzung dafür ist allerdings eine hohe Gesprächsfähigkeit und damit die Bereitschaft, sich rasch auf neue Themen, Lösungen, Kommunikationsstile einzustellen. Nicht Prinzipienlosigkeit, wohl aber Toleranz und Neugier sind gefordert.

Die klassischen Instanzen der Sozialisation stehen damit vor der Aufgabe, die Tugend der Gesprächsfähigkeit mit auszubilden. Fast jedes Unternehmen bietet für seine Mitarbeiter Rhetorik-Kurse an. Warum tragen Schule und Universität nicht zur Popularisierung dieser alten, aber durchaus weiterentwickelten Wissenschaft von der Rede bei, wie dies in den angelsächsischen Zivilisationen getan wird? Dass Medienerziehung bei der jungen Generation den kreativen Umgang mit den Informationstechnologien fördert und den passiven Konsum mindern kann, ist erwiesen.

Ist nicht auch zu vermuten, dass die neuen Technologien positive Formen des verbalen Austauschs hervorbringen werden? So ist die E-Mail informeller als Brief und Notiz; sie sorgt für raschere Erreichbarkeit des Ansprechpartners als Telefon oder persönliches Gespräch. Ähnliches gilt für das Internet. Zum Gespräch ist es eher komplementär zu sehen. Schließlich hat auch das Telefon nicht den Brief, hat der Brief nicht das Gespräch überflüssig gemacht. Denn der Austausch auf Distanz ersetzt den persönlichen Kontakt nicht.

Die Eingangsfrage lautete: Brauchen wir eine neue Gesprächskultur? Fest steht: Wir haben eine. Sie ist gekennzeichnet durch Spezialisierung, Professionalisierung und durch ergänzende Formen des Austauschs mittels neuer Medien. Dass sie im größeren Rahmen der Kommunikationsgesellschaft Anfechtungen und auch Pervertierungen ausgesetzt ist, liegt auf der Hand und erfordert Einmischung. Dies war jedoch in der Geschichte der Konversation nicht anders. Heute nehmen mehr Menschen an der Kommunikation teil denn je, auch wenn das Niveau nicht Diderots Jacques le fataliste erreicht. Aber hatte der französische Bauer einen Platz in den Pariser Salons?

Roland Kaehlbrandt

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