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Fein- und Grobmotorik werden in der Neuroreha trainiert.

© Imago

Schädelhirnverletzungen: Das Leben neu lernen

Eine Unachtsamkeit, und für Mario Piehl war nichts mehr wie zuvor.

„Ich gucke in den Spiegel und sehe denselben Menschen.“ Der junge Mann, der das bei einem Cappuccino erzählt, ist Mitte 30, schlank. Er macht einen freundlichen, aufgeschlossenen, sportlichen, sprachgewandten und extrovertierten Eindruck. Er lächelt sympathisch, begleitet seine präzise formulierten Sätze mit temperamentvollen Gesten. Man sieht ihm nicht an, dass all das – und noch viel mehr – vor knapp sechs Jahren für immer verloren schien.

Mario Piehl, gelernter Bürokaufmann, war damals gerade mit seiner Freundin in ein neues Haus am Rand von Berlin gezogen. Beruflich und privat passte alles. Dann passierte es, bei Wartungsarbeiten an einem Schleppboot, das er für sein Hobby, den Motorboot-Rennsport, brauchte: Versehentlich kam er aufs Gas, beschleunigte und prallte durch einen unglücklichen Zufall mit voller Wucht gegen eine Holzbohle. „Mein Kopf war zertrümmert, doch ich blutete nicht und war zunächst auch nicht bewusstlos.“

Es folgten drei Wochen im künstlichen Koma auf einer Intensivstation. Mit Kühlung und dem Aufbohren des Schädels wurde versucht, Druck abzulassen, damit das Gehirn keinen weiteren Schaden nahm. Schließlich musste doch ein Teil der Schädeldecke entfernt und tiefgekühlt aufbewahrt werden.

Zehn Mal wurde sein Kopf operiert

Als Mario Piehl schließlich in die stationäre Neuroreha kam, konnte er zwar wieder laufen, doch er trug noch einen Helm. Ein halbes Jahr dauerte es, bis die Schädeldecke wieder geschlossen werden konnte – mit künstlichem Material, weil er gegen das eigene, konservierte Knochenmaterial Abstoßungsreaktionen zeigte. Insgesamt machte Mario Piehl zehn Operationen am Kopf mit.

Obwohl auch sein Knie bei dem Unfall etwas abbekommen hatte, war er bald wieder körperlich aktiv. Sein Wille ist stark, das ist auch jetzt, einige Jahre später, deutlich zu spüren. „Ich merkte, dass es den anderen Patienten in der Reha deutlich schlechter ging, hatte oft ein Gefühl der Leistungsunterforderung.“

Anschließend ging es für drei Monate in die ambulante Reha. Piehl musste außerdem zusammen mit seinem Neurologen die richtige Dosierung für die Medikamente finden, die er auch heute, sechs Jahre nach dem Unfall, dringend braucht: Mittel gegen die epileptischen Anfälle, die ihn seitdem begleiten. Und Medikamente, die seine schwankende Stimmung im Zaum halten. Auch mit seiner Neuropsychologin, bei der er nach wie vor alle zwei Wochen ist, arbeitet er daran.

Heute hat er einen kleinen Sohn – und will zurück in den Beruf

Schon bald nach der Reha hat der Bürokaufmann versucht, mithilfe des „Hamburger Modells“ stufenweise zurück in den Beruf zu finden. Doch er hatte sich verändert, das merkte er bei der Arbeit schnell: „Ich bekam immer wieder Kopfschmerzen, vor allem aber funktionierte das Merken nicht. Ich kann seit dem Unfall überhaupt nicht steuern, welche Informationen gespeichert werden.“ Er fühlte sich unter Druck – und dann ging gar nichts mehr.

Derzeit ist Piehl daher berentet, zeitlich befristet zwar, doch es ist keine erstrebenswerte Situation für einen Familienvater Mitte 30. Denn inzwischen hat Piehl einen kleinen Sohn. Er leidet darunter, dass er sich auch ihm immer nur kurz widmen kann. Er braucht immer noch viele Ruhepausen, viel Schlaf. Doch er sagt auch, er habe „ein Arrangement mit der Situation gefunden, mir bleibt ja keine andere Wahl.“ Was ihm hilft, ist einerseits die Gewöhnung – aber auch die Hoffnung, dass einiges mit der Zeit noch besser wird und dass er eine passende berufliche Aufgabe findet.

„Zu Beginn, gleich nach dem Aufwachen aus dem künstlichen Koma, gab es aber Momente, in denen man am liebsten den Stecker gezogen hätte“, bekennt der junge Mann schließlich zögernd. Sein Spiegelbild zeigt heute keine Narben, verrät nichts von den düsteren Augenblicken. „Doch sie haben in mir den Wunsch wachsen lassen, anderen in einer vergleichbaren Situation zu helfen.“

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