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Gesundheit: Schaufenster der Evolution

Im chinesischen Chengjiang finden sich wunderbare Fossilien. Doch Phosphatabbau bedroht die Lagerstätte

Vor rund einer halben Milliarde Jahre, unmittelbar am Beginn des Zeitalters Kambrium, schien das Leben plötzlich zu explodieren. Wie aus dem Nichts tauchten die ersten Vertreter sämtlicher heute noch lebender Tierstämme auf. Nach einer Erdgeschichte ohne Fossilien hinterließ das Leben dank erhaltungsfähiger Kalkpanzer und anderer Hartstrukturen erstmals massenhaft erkennbare Zeugnisse. Ebenso vielfältige wie oftmals bizarre Lebensformen erschienen, die sich später zur uns heute bekannten Tierwelt entwickeln sollten.

Vielen Evolutionsbiologen erscheint diese „kambrische Explosion“ der Tierwelt als der wohl gewaltigste Sprung, den die Natur je machte. Es ist der Übergang von einer bis dahin überwiegend aus Mikroben gebildeten Biosphäre zu einer Lebenswelt, bei der vielzellige Kreaturen erstmals Körperbau-Entwürfe verwirklichten, die es zuvor nicht gegeben hat. Dieses Feuerwerk an Schöpfungsideen im Kambrium vor 543 Millionen Jahren, bei dem offenbar alle heute lebenden Tierstämme wie auf einen Schlag entstanden zu sein scheinen, gehört zu den großen ungelösten Rätseln der Biologie.

Eines der Schaufenster für diesen „tierischen Urknall“ ist Chengjiang nahe dem Ort Kunming in der südchinesischen Provinz Yunnan. Nachdem dort vor gerade einmal zwei Jahrzehnten die ersten versteinerten Zeugnisse aus der Frühzeit animalischer Design-Experimente entdeckt wurden, hat sich Chengjiang als beständige Quelle neuer Einblicke erwiesen.

In den feinkörnigen Schlammablagerungen eines einstigen Flachmeeres haben sich sogar die Weichteile vieler mariner Tierformen in exquisiten Details erhalten, bis hin zu Abdrücken von Herz und Muskulatur. Chengjiang erlaubt den Forschern so die weitgehend vollständige Rekonstruktion der einstigen Körperformen. Es sei so, als könne man Fotos der Tiere aufnehmen, um ihre Anatomie zu untersuchen, schwärmen Paläontologen. Und chinesische Forscher feiern mit Kollegen aus Amerika, Kanada und Großbritannien die Entdeckung wichtiger Funde in so rascher Folge, dass selbst Fachleute kaum Schritt halten können.

Zuletzt Anfang Mai 2006 verkündete ein Forscher-Team mit „Stromatoveris“ die Entdeckung eines neuen Chengjiang-Fossils, das entfernt an eine mit den Weichkorallen verwandte Seefeder erinnert und möglicherweise den Anschluss an die mysteriöse präkambrische Tierwelt bildet („Science“, Band 312, Seite 731). Mittlerweile sind mehr als 130 Arten von 13 Tierstämmen gefunden worden. Zu den Highlights der letzten Jahre gehört das rätselhafte Tierchen Vetulicola, das auf den ersten Blick wie ein schwanztragender Krebs aussieht, zugleich aber auch Kiemenspalten aufweist. Dazu gehören zweifellos auch fischähnliche Fossilien wie Yunnanozoon, Cathaymyrus und Haikouella – nur knapp drei Zentimeter große, aber eindeutig erste Vertreter der Wirbeltiere mit einer Rückensaite (Chorda), aus der sich im Verlauf der Evolution die Wirbelsäule entwickelte. Chengjiang gilt mithin als die Wiege der Chordaten-Evolution – jenem Tierstamm, zu dem Zoologen auch den Menschen rechnen.

Chengjiang ist gleichsam die chinesische Antwort auf den spektakulären Fundort Burgess Shale im kanadischen Bundesstaat British Columbia. Doch besser noch als der Fossilschatz in den Rocky Mountains zeigt die rund 10 Millionen Jahre ältere Lagerstätte Chengjiang, zu welchen Einfällen die Natur in dieser Frühphase des Lebens fähig war und was sie aus Schalen und Panzern, aus Beinpaaren und Ruderblättern zu basteln vermochte.

So bedeutend Chengjiang für die Forschung ist, so unglücklich ist es, dass im selben Jahr wie die Fossilien just dort gewaltige Phosphatlagerstätten entdeckt wurden, die sich über mehrere 10 000 Quadratkilometer erstrecken. Seit 1984 werden diese großflächig im Tagebau erschlossen, eine willkommene Einnahmequelle für eine der ärmsten Regionen im äußersten Südwesten Chinas.

Zwar hat die Provinzregierung unlängst den offenen Tagebau untersagt, doch nur in einem der wichtigsten Fossil-Fundorte um den Mount Maotian. Diese Fundstelle ist seit 2001 als Geologischer Nationalpark unter Schutz gestellte. Chinesische Forscher berichten aber, dass um sie herum bis auf wenige Meter an die Fundstellen heran der Tagebau unvermindert weitergeht („Science“, Band 305, Seite 1893).

Sie fürchten zudem, dass mehrere andere aussichtsreiche Fundstellen in Chengjiang, die oft mehr als 50 Kilometer auseinander liegen, beim Phosphatabbau von den Minenfirmen unbedacht vernichtet werden, bevor die Fossilien überhaupt entdeckt werden können. Chinesische Forscher um den Entdecker von Chengjiang, den Paläontologen Hou Xianguang, wollen jetzt erreichen, dass die Lagerstätte – ähnlich wie die einst als Mülldeponie missbrauchte Grube Messel bei Darmstadt – als Unesco-Weltkulturerbe unter internationalen Schutz gestellt wird.

Dazu aber muss der Park einige Bedingungen erfüllen, etwa eine natürliche Pufferzone um die Fossilfundstellen. Um diese nicht vorher zu zerstören, müsste der Phosphatabbau gestoppt werden. Doch die dort operierenden Firmen haben noch immer gültige Genehmigungen, die ausgestellt wurden, bevor man die wissenschaftliche Bedeutung von Chengjiang erkannte, und für die die Minenfirmen entschädigt werden müssten.

Immerhin wurden bereits 25 Minen in Chengjiang geschlossen und China hat umgerechnet mehr als sieben Millionen US-Dollar an Kompensation gezahlt. Doch andere Firmen in unmittelbarer Nähe der Fundstellen haben ihren Abbau in den vergangenen Jahren sogar noch beschleunigt, bevor ihre Konzessionen ablaufen. Damit kommen die Schaufelbagger den einmaligen urzeitlichen Zeugnissen von den Anfängen des tierischen Lebens weiterhin gefährlich nahe.

Matthias Glaubrecht

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