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Gesundheit: Schmerz

Von Christoph Markschies, Präsident der Humboldt-Universität

„Indianer kennt keinen Schmerz“, pflegte meine Mutter zu sagen, wenn mein Bruder oder ich als Kinder laut schreiend zu ihr liefen, weil wir wieder einmal mit dem Fahrrad umgefallen waren und uns die Knie blutig geschlagen hatten. So ist es vermutlich auch wenig verwunderlich, dass in Kindertagen meine Sympathien immer den Cowboys gehörten und nie den merkwürdigen Indianern, die aus undurchschaubaren Gründen keinen Schmerz kannten, obwohl sie doch vermutlich auch mal von ihren Pferden fielen.

Leben wir in einer Gesellschaft von Indianern? Vom Schmerz redet niemand gern, Niederlagen werden verschwiegen, Verluste im stillen Kämmerlein bewältigt und gedankliche Revisionen vertuscht. Was Schmerz macht, was schmerzlich ist, behalten wir in der Regel für uns.

Auf der einen Seite gilt: Schmerz sollte man nicht verklären. Natürlich hat es an und für sich keinen Wert, vom Fahrrad oder Pferd zu fallen und sich das Knie blutig zu schlagen. Auf der anderen Seite hat mancher Schmerz seine heilende Seite: Er holt aus dem beliebigen Einerlei des Alltags, konzentriert auf das Wesentliche und setzt nach einer Phase der Lähmung ganz ungeahnte Kräfte frei.

Man erinnere sich nur an Marianne von Willemer, die von der Frankfurter Bankiersgattin zeitlebens diskret bewahrte Beziehung zum Dichterfürsten aus Weimar. Im Œuvre der beiden finden sich höchst eindrückliche Verse, die aus Schmerz geboren sind: „Bunte Blumen in dem Garten/ leuchten in der Morgensonne,/ Aber leuchten keine Wonne,/ Liebchen darf ich nicht erwarten“. Und natürlich „Ach, um deine feuchten Schwingen,/ West, wie sehr ich dich beneide:/ Denn du kannst ihm Kunde bringen,/ Was ich durch die Trennung leide.“

Nicht jeder Schmerz produziert Texte von solcher Art, dass sich seit 1868 Heerscharen von Philologen darauf stürzen, gelegentlich auch von Neugier nach Details einer ungewöhnlichen Beziehung getrieben. Manchmal sind es banale Einsichten über das eigene Leben, die man aufgrund von bitterem Schmerz gewinnt, beispielsweise die Gewissheit, angesichts einer schweren Krankheit dem Ehepartner doch endlich etwas mehr Zeit widmen zu wollen als dem Moloch Büro. Inzwischen bin ich übrigens felsenfest davon überzeugt, dass auch die Indianer Schmerz kennen. Das kann ja gar nicht anders sein.

Der Autor ist Kirchenhistoriker und schreibt an dieser Stelle jeden zweiten Montag über Werte, Wörter und was uns wichtig sein sollte.

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