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Gesundheit: Schön und zwecklos

Biologen versuchen, den weiblichen Orgasmus und seine Rolle in der Evolution zu enträtseln

Der sexuelle Höhepunkt des Mannes hat einen eindeutigen biologischen Nutzen – ohne Orgasmus keine Nachkommen. Aber welchen „Zweck“ hat der Höhepunkt bei der Frau? Sie braucht keinen Orgasmus, um sich fortzupflanzen. Wenn die Evolution den weiblichen Orgasmus gewollt hätte, dann hätte sie dafür gesorgt, dass er sich stets ereignet, vermuten Biologen. Aber die Realität ist oft nicht so berauschend wie im Kinofilm. Manche Forscher glauben deshalb, dass der Höhepunkt der Frau von der Natur überhaupt nicht als Anpassungsleistung gedacht ist. Dass er gar keine gewollte Aufgabe erfüllt, sondern einfach nur ein Nebenprodukt unserer Entwicklung ist. Ebenso schön wie zwecklos.

Der kürzlich verstorbene Evolutionsbiologe Stephen J. Gould setzte die weibliche Klitoris und die von ihr vermittelten, angenehmen Empfindungen mit der Spandrille in Kathedralen wie San Marco in Venedig gleich. Die Spandrille ist eine Metapher für ein Organ oder Merkmal, das wie eine Anpassungsleistung aussieht, aber in Wirklichkeit nur die zufällige Begleiterscheinung einer solchen ist.

Spandrillen sind Rudimente, die von dem Winkel herrühren, in dem gewölbte gotische Decken gebaut wurden, um Dächer zu unterstützen. Es ist unmöglich, einen Bogen oder eine Kuppel zu entwerfen, ohne nebenbei dreieckige Mauerflächen zu produzieren – eben die Spandrillen. Die Spandrille ist nicht der Zweck, betont die Autorin Natalie Angier. „Sie ist ein Mittel zum Zweck, nämlich der Konstruktion eines Bogens. Ist die Spandrille aber erst einmal da, spricht nichts dagegen, sie zu vergolden, sie so schön wie nur irgend möglich auszugestalten.“ Kathedralen benötigen keine Spandrillen, so wie Frauen für ihre Fortpflanzung nicht auf Orgasmen angewiesen sind.

Für den Anthropologen Donald Symons ist der Höhepunkt der Frau ebenso wenig eine Anpassung an die Umwelt wie die männlichen Brustwarzen. Er ist ein durch die embryonale Entwicklung bedingtes Erbstück. Symons glaubt, dass Frauen ein mehr oder weniger ausgeprägtes Orgasmuspotenzial besitzen, weil sie einen großen Teil ihres Nervensystems mit den Männern gemeinsam haben.

Männliche und weibliche Embryonen erhalten die gleiche Ausstattung, es sei denn, ein zwingender Grund spricht dagegen: Wenn das Ungeborene sich zur Frau entwickelt, entfalten sich später die Brüste, aber die Klitoris bleibt klein und versteckt.

Wenn der Fötus zum Mann heranwächst, dehnt sich der klitorale Bereich zum Penis aus, während die Brüste unterentwickelt bleiben. Der weibliche Orgasmus wäre demnach eine „pseudomännliche Reaktion“, die ihre Existenz der Tatsache verdankt, dass der männliche Orgasmus so nachhaltig in unserer gemeinsamen Biologie verankert ist. Wenn er bei der Frau auftritt, ist er praktisch mit dem Höhepunkt des Mannes identisch, weil er in denselben Nervenfasern wurzelt.

Feministinnen haben diese Überlegungen als letztlich Frauen verachtende Ideologie zurückgewiesen, konzediert die Evolutionsforscherin Elisabeth A. Lloyd. „Bedauerlicherweise begeben sie sich damit in die missliche Position, die plausibelste Deutung der evolutionären Ursprünge des weiblichen Orgasmus zu leugnen, nur weil sie die Tatsache nicht mögen, dass diese die männliche Sexualität evolutionär wichtiger macht."

Dahinter steckt wahrscheinlich die Überzeugung, dass der weibliche Orgasmus nur dann Würde und Gleichrangigkeit erlangt, wenn er eine eigenständige Aufgabe in der Biologie erfüllt. Das Eingeständnis, dass eine derart hochgeschätzte Erfahrung ein Nebenprodukt ihres männlichen Pendants sein könnte, erscheint wie eine Kapitulation vor dem phallischen Größenwahn. „Aber es gibt gar keinen Grund für die Annahme, dass nur direkt von der natürlichen Auslese erwählte Eigenschaften ,wichtig’ sind“, setzt Lloyd dagegen. „Viele Eigenschaften, die sich überhaupt nicht durch biologische Auslese ergeben haben, werden als kulturell wichtig erachtet, zum Beispiel musikalisches Talent, die Fähigkeit, Raketen zu bauen, und sogar die Fähigkeit zu lesen. Warum nicht auch die Möglichkeit der Frauen, einen Orgasmus zu haben?“

Die Fähigkeit, Symphonien zu komponieren oder Gedichte zu schreiben, wurde dem Menschen keineswegs verliehen, weil sie irgendeinen Nutzen im Daseinskampf erbracht hätte. Musikalität, ästhetisches Talent und viele der bedeutendsten Potenziale unseres Geistes sind keine adaptiven Anpassungsleistungen, sondern ebenfalls „nur“ Nebenprodukte, die sich von ganz profanen Stärken unseres Intellektes ableiten.

Auch die Biologin Lynn Margulis weist auf diese Querverbindung zur menschlichen Kultur hin. „Die Lustempfindungen der Klitoris gleichen – im Unterschied zu denen des Penis – eher der Musik, der Kunst oder der Liebe, sie haben mehr mit Kultur und dem Reich des Spiels zu tun als mit dem Gang der Evolution.“

Die Phänomene, an deren Erklärung die anderen Denkansätze zum weiblichen Orgasmus gescheitert sind, bereiten der Nebenprodukt-Theorie keine Schwierigkeiten. So war bisher rätselhaft, warum die weibliche Orgasmusfähigkeit beim Übergang zum Menschen einen Sprung nach vorne machte. Aber wenn das Potenzial der Frau den Widerschein seines männlichen Gegenstückes darstellt, dann leitet sich aus einer besonders starken männlichen Libido auch eine starke weibliche Sexualität ab.

Diesen Beitrag entnahmen wir dem soeben erschienenen Buch von Rolf Degen: „Vom Höchsten der Gefühle. Wie der Mensch zum Orgasmus kommt.“ Eichborn Verlag, 302 Seiten, 19 Euro 90.

Rolf Degen

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