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Gesundheit: Schutz für das Ungeborene

Deutsche Gynäkologen fordern eine stärkere Begrenzung für späte Abtreibungen

Gute Absichten führen bekanntlich nicht immer zu wirklich befriedigenden Lösungen. Das könnte auch für die Änderung des Abtreibungsparagrafen im Jahr 1995 gelten: Dass ein Ungeborenes wahrscheinlich mit einer schweren Fehlbildung oder Krankheit auf die Welt kommen würde, sollte nicht mehr als Grund für eine Abtreibung gelten. Nur die gesundheitliche Belastung der Mutter gilt seither als Kriterium. Die alte „embryopathische“ Indikation ist in der „medizinischen“ Indikation aufgegangen.

„Diese Verbindung hat jedoch für das Kind kein bisschen mehr Schutz gebracht“, stellt heute die Bundesverfassungsrichterin a.D. Karin Graßhof nüchtern fest. Weil die „mütterliche“ Indikation auch für Fälle gedacht ist, in denen akute Gefahr für Leib und Leben der Schwangeren besteht, gibt es hier, im Gegensatz zu der früheren „embryopathischen“ Indikation – und natürlich zu allen anderen Schwangerschaftsabbrüchen, die unter die Fristenregelung fallen – keine zeitliche Begrenzung. Schon 1998 ging die Bundesärztekammer daher in einer Erklärung zum Schwangerschaftsabbruch gegen späte Abbrüche auf die Barrikaden.

Lebensfähig nach 22 Wochen

Bei einer Fachtagung der Deutschen Gesellschaft für Gynäkologie und Geburtshilfe (DGGG) wurde jetzt intensiv über ein neues Positionspapier diskutiert. Die Gynäkologen fordern dort von der Politik, die Lebensfähigkeit des Ungeborenen „in der Regel als zeitliche Grenze für einen Schwangerschaftsabbruch anzunehmen“. Spätestens wenn ein Fötus außerhalb des Mutterleibs lebensfähig wäre, unterscheide sich sein Anspruch auf Lebensschutz nicht mehr von dem eines geborenen Kindes. Dieser Zeitpunkt liegt heute etwa bei der 22. Schwangerschaftswoche. Ausnahmen sollten nur im Fall „schwerster unbehandelbarer Krankheiten und Entwicklungsstörungen des Ungeborenen“ gelten. Darüber müsse aber eine Kommission entscheiden, in der sich Frauen-, Kinderärzte, Humangenetiker und Psychologen treffen.

130387 Schwangerschaftsabbrüche gab es im Jahr 2002 in Deutschland. Davon entfielen 3271 auf die neue, weit gefasste medizinische Indikation. 188 von ihnen erfolgten nach der 23. Schwangerschaftswoche.

Für 97,5 Prozent aller Abtreibungen galt also die Fristenlösung mit verpflichtender Schwangerschaftskonfliktberatung. Die Fachgesellschaft fordert nun eine Beratungspflicht auch für die Frauen, die einen Abbruch erwägen, nachdem sie von einer zu erwartenden genetischen Veränderung oder Krankheit erfahren haben. Pränataldiagnostik jeder Art sollte ohnehin nicht ohne Beratung und Einwilligung der Schwangeren gemacht werden. Doch offensichtlich schlagen Frauenärzte auch heute noch vielen Frauen über 35 eine genetische Untersuchung ohne weitere Erklärungen vor.

Die Hälfte der Frauen, die sich beim Internet-Forum der Zeitschrift „Eltern“ zu Wort melden, fühlen sich von ihrem Gynäkologen nicht ausreichend informiert, berichtete Rosemarie Wetscher, Redakteurin bei dem auflagenstärksten deutschen Eltern-Magazin. „Wenn die Frauen keine Fruchtwasseruntersuchung wollen, stoßen sie bei ihrem Arzt zudem oft auf Unverständnis.“ Viele Frauen nehmen denn auch vertrauensvoll „alles mit“, was ihr betreuender Arzt ihnen an Untersuchungen anbietet.

Nach den Mutterschaftsrichtlinien stehen in Deutschland allen Frauen routinemäßig drei Ultraschall-Screening-Untersuchungen zu, die erste zwischen der neunten und zwölften Schwangerschaftswoche. Genetische Untersuchungen nach Entnahme von Fruchtwasser (Amniozentese) oder Gewebe aus der zukünftigen Plazenta (Chorionzottenbiopsie) werden Frauen ab 35 Jahren angeboten.

Per Ultraschall können zudem schon im ersten Schwangerschaftsdrittel durchscheinende Stellen im Nacken, Nackenfalten, Nasenbein, Extremitäten, Herz und Gefäße untersucht werden. In Kombination mit Hormonwerten im mütterlichen Blut geben die Messungen Auskunft über das Risiko für Chromosomenstörungen. Möglicherweise, so die DGGG, könne der verstärkte Einsatz des Organ-Ultraschalls zur „früheren Diagnostik schwerwiegender Veränderungen und damit zu einer Verringerung von Spätabbrüchen“ beitragen.

Recht auf Nichtwissen

„Alle diese Maßnahmen können zur Beruhigung, aber auch zur Beunruhigung der Frauen beitragen, die eigentlich guter Hoffnung sind“, sagte Heribert Kentenich, Direktor der Frauenklinik der DRK Kliniken Westend. Schon vor der ersten Ultraschall-Untersuchung muss deshalb die Aufklärung über mögliche Konsequenzen stehen. Dazu gehört nicht zuletzt der Hinweis, dass es auch das „Recht auf Nichtwissen“ gibt.

Ein schwerwiegender Befund führt oft zu hektischen und panischen Reaktionen. „Viele Schwangere wünschen sich akut und sofort einen Abbruch, um diese Schwangerschaft ‚ungeschehen‘ zu machen“, berichtete Kentenich. Die DGGG fordert von der Politik jedoch die Einführung einer „angemessenen Bedenkzeit“, wie sie für Abbrüche nach der Fristenlösung auch gilt. In dieser Zeit kann es für die Schwangere und ihren Partner sinnvoll sein, Kontakt zu Selbsthilfegruppen aufzunehmen. Dort erfahren sie zum Beispiel, dass Trisomie 21 ganz unterschiedliche Auswirkungen haben kann.

Die Eltern, die vorgeburtliche Diagnostik in Anspruch nehmen, wünschen sich ja ein Kind. Und die Diagnostik kann auch zu Therapien führen. Heute können schon während der Schwangerschaft Eingriffe am Ungeborenen vorgenommen werden. Außerdem helfen die Informationen über kindliche Probleme, die Geburt optimal vorzubereiten.

Nach Hormonbehandlungen, die zu einer Mehrlingsschwangerschaft führen, können Arzt und Eltern vor der schwierigen Entscheidung stehen, einen oder mehrere Ungeborene zu töten, weil sonst keiner überleben würde. Klaus Vetter vom Vivantes-Klinikum Neukölln, Vizepräsident der Fachgesellschaft, nannte ein weiteres Beispiel für eine komplexe Entscheidungssituation: Zwillinge, die durch gemeinsame Blutgefäße verbunden sind. Was soll man tun, wenn der eine unter einer Versorgungsstörung leidet, die auch den anderen gefährden könnte?

Der Wissenszuwachs schafft hier neue Probleme. Über Schwangerschaftsabbrüche nach Pränataldiagnostik wird inzwischen vielleicht mehr diskutiert als über die Mehrheit der Abbrüche, die nach der Fristenlösung straffrei bleiben. Legt die Gesellschaft die moralische Messlatte höher an, wenn es um Behinderungen geht? Ein sensibles Thema. Um überhaupt Klarheit über Ausmaß und Art der medizinisch begründeten Schwangerschaftsabbrüche zu gewinnen, fordern die Gynäkologen, dass alle Daten statistisch erfasst und publiziert werden.

Das Papier ist nachzulesen unter: www.dggg.de

Adelheid Müller-Lissner

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