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Gesundheit: „Seid realistisch, verlangt das Unmögliche“

Der Berliner Streik-Forscher Dieter Rucht erklärt die neue Studentenbewegung

DIE PROTESTE AN DEN BERLINER UNIVERSITÄTEN

DIETER RUCHT (57) arbeitet seit 1988 als Soziologe am Wissenschaftszentrum Berlin. Ruchts Forschungsschwerpunkte: politische Proteste und soziale Bewegungen.

Herr Rucht, formiert sich derzeit eine neue Studentenbewegung?

Es sieht ganz danach aus. In Hannover gingen 18 000 auf die Straße, in München gut 10 000. In Berlin ist die Beteiligung eher schwach, von 135 000 Studierenden kamen nur 4000 zur Demo aller Unis. Aber auch hier ist die Stimmung zunehmend gereizt. Die Besetzung des Senatorenbüros zeigt: Offensive Proteste werden derzeit nur von wenigen hundert Aktivisten getragen. Damit werden die Studenten aber wahrgenommen, während eine Einstellung des Studienbetriebs die Öffentlichkeit kalt lässt.

Ein Streik bringt also nicht viel?

Der Streik ist eigentlich ein Mittel der Arbeiterschaft, das einzige wirksame Instrument, um höhere Löhne oder mehr Freizeit durch eine Stilllegung von Betrieben durchzusetzen. Der studentische Streik an Universitäten ist etwas völlig anderes: Es fehlt das Störpotenzial, das einen Gegner in Bedrängnis bringen könnte. Wenn Studierende streiken, entsteht außerhalb der Uni kein Schaden. Faktisch schädigen sich die Studierenden selbst, denn sie müssen den Stoff und die Prüfungen nachholen, die sie jetzt verpassen.

Wie lange werden die Studierenden den Protest ohne eine breite Basis durchhalten?

Studentische Proteste sind meist kurzatmig. Wir haben ja nach den 1960er Jahren mehrere Protestwellen erlebt. 1988/89 gab es eine sehr kurze und abrupte Bewegung. Damals wurde von den Medien eine neue Studentenbewegung, die „ideologiefrei, pfiffig und nicht allzu frech“ sei, ausgerufen. Die damaligen Themen ähnelten den heutigen: Mehr Bücher, mehr Profs, mehr Räume – und Widerstand gegen den anstehenden BafögKahlschlag. Die nächste große, aber ebenfalls sehr kurze Protestwelle ging 1997 von der Uni Gießen aus – gegen völlig überfüllte Seminare. An 50 Unis wurden Lehrveranstaltungen blockiert, und die Demonstration in Bonn war mit 50 000 Teilnehmern die größte ihrer Art der letzen 20 Jahre. Wie so oft verebbte der Protest mit den Semesterferien im Frühjahr 1998. Bemerkenswert war damals, dass die Politiker aller Parteien die Streiks begrüßt haben. Aber außer bescheidenen Bundeszuschüssen für die Unibibliotheken ist überhaupt nichts passiert.

Die Streikenden fordern in Zeiten allgemeinen Sparens mehr Geld für die Bildung: Finanzierung von 135 000 statt 85 000 Studienplätzen in Berlin – aber bloß keine Studiengebühren. Wie realistisch müssen Forderungen sein, um die Politik zum Einlenken zu bewegen?

Es gibt diesen schönen Spruch von 1968: „Seid realistisch, verlangt das Unmögliche.“ Wenn freche Forderungen mit starkem politischem Druck gepaart sind, kann am Ende zumindest ein Teil der Ziele erreicht werden.

Hat die Politik überhaupt noch Spielräume?

Sie steckt in einem fundamentalen Dilemma: Wegen der Verschuldung der öffentlichen Haushalte muss an allen Ecken gespart werden, auch im Bildungsbereich. Andererseits postulieren Politiker bis hin zum Bundespräsidenten immer wieder: Unser Kapital als rohstoffarmer Industriestaat ist Information, Wissen und Bildung. Deshalb hat die Bundesregierung zu Recht den Vorsatz gefasst, nicht dort zu kürzen, wo es um Zukunftsinvestitionen geht. Das Problem: Investitionen in die Bildung wirken sich nicht innerhalb einer Legislaturperiode aus, die das Handeln von Politikern bestimmt.

Die Bildungsmisere bewegt nicht nur die Studenten, sondern die gesamte deutsche Öffentlichkeit. Hat die Sorge um Bildungschancen jemals eine so große Rolle gespielt wie heute?

Zum Teil spielten ungleiche Bildungschancen für Arbeiterkinder in der 68er Bewegung eine Rolle. Die Bildungskatastrophe, so der Titel des 1963 erschienenen alarmierenden Buches von Georg Picht, wurde damals in Fachkreisen breit diskutiert. Dann wurden die Hochschulen stark ausgebaut – zu den Massenuniversitäten, an deren Begleiterscheinungen die jetzige Generation leidet.

Ist die Situation an den Unis ausweglos?

Gerade jetzt, wo ja tatsächlich gespart werden muss, müssten auch die Studierenden ihren Beitrag leisten. Prinzipiell bin ich für ein System von Studienkonten: Man verschuldet sich während des Studiums, und später werden die gutverdienenden Ex-Studierenden zur Kasse gebeten. Wir brauchen ein differenziertes System der Vorleistungen durch den Staat, das aber so ausgestaltet ist, dass es niemanden vom Studium abschreckt.

Wie könnte man die gegen Gebühren protestierenden Studenten überzeugen?

Man kann ihnen sagen: Studiengebühren oder Studienkredite sind zwar verglichen mit den Gesamtkosten für die Hochschulen nur ein sehr kleiner Beitrag. Aber es geht in diesen Zeiten des Sparens auch um kleine Beiträge – und um Lastenverteilung. Es ist nicht einzusehen, dass Studierende, die in der Mehrzahl später zu den Gutverdienenden gehören, kostenfrei studieren. Aber sie haben einen Anspruch auf steuerfinanzierte Vorleistungen, welche sie später – je nach ihrem Verdienst – ganz oder teilweise der Gesellschaft zurückerstatten.

Betrifft der Studentenstreik Sie persönlich?

In meinem Seminar an der Freien Universität – es geht um Michael Moores Film „Bowling for Columbine“ und die Gewalt in den USA – gab es eine Debatte über einen möglichen „Streikbruch“. Mit großer Mehrheit entschied sich das Seminar, die geplanten Referate anzuhören und zu besprechen. Ein Referent zog seinen Vortrag aber zurück. Am Ende wurde beschlossen, die nächste Sitzung in den öffentlichen Raum zu verlegen, um zu zeigen, dass wir mit den Verhältnissen an den Unis nicht mehr einverstanden sind. Ich beteilige mich daran, weil ich es für richtig halte, die Öffentlichkeit mit der Nase auf die desolate Lage an den Hochschulen zu stoßen.

Das Gespräch führte Amory Burchard.

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