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Seltene Krankheit: Wenn es nicht mehr weitergeht

Ein Kind lernt greifen, krabbeln, sprechen. Und plötzlich verliert es das alles wieder, die Eltern stehen vor einem Rätsel. Die schockierende Diagnose: Rett-Syndrom.

An ihrem fünften Geburtstag tat Annika Schreiner das erste Mal etwas, was alle Kinder gerne tun. Sie machte die Kerzen auf ihrem Kuchen selber aus. Doch während andere dafür nur einmal pusten müssen, brauchte Annika einen Schalter, einen Stromunterbrecher und einen Föhn. Nach ein paar Versuchen klappte es: Mit ihrer Hand traf Annika den großen, roten Knopf, der Stromkreis schloss sich, der Haartrockner ging an und blies die kleinen Flammen aus.

Die Apparatur haben sich Annikas Eltern ausgedacht. Monate nach dem Geburtstag baut der Vater sie erneut in der Küche ihres Hauses im brandenburgischen Bergfelde auf. Er will zeigen, was Annika mit etwas Unterstützung alles vermag. Denn darum geht es den Eltern: Mit allen Mitteln versuchen sie, ihrer Tochter Erfahrungen zu ermöglichen, welche die Natur ihr versagt. Annika leidet am Rett-Syndrom, bei Mädchen die zweithäufigste Behinderung nach dem Down-Syndrom. Eine Aufforderung wie „Komm, puste mal“ würde Annika wahrscheinlich nicht verstehen, und selbst wenn sie es täte, könnte sie ihr nicht folgen. Menschen mit Rett haben nur wenig Kontrolle über ihren Körper.

Typischerweise entwickeln sich solche Kinder – fast immer sind Mädchen betroffen, die Jungen sterben meist im Mutterleib – in den ersten anderthalb Lebensjahren normal, dann ereignet sich der Albtraum aller Eltern: Nach und nach verlieren diese Kinder alle Fähigkeiten wieder. Die Hände können sie kaum noch gebrauchen, machen stattdessen nur waschende oder wringende Bewegungen.

Annika konnte den Trinkbecher halten, mit dem Löffel essen und Bauklötze stapeln, als sich die Krankheit zeigte. Heute kann sie davon nichts mehr, aber sie hat vergleichsweise Glück gehabt. Im Gegensatz zu vielen Rett-Kindern sitzt sie nicht im Rollstuhl, sondern kann noch laufen. Treppensteigen, auf die Toilette gehen oder sprechen hat sie dagegen nie gelernt. Das blonde Mädchen mit dem fein geschnittenen Gesicht sei anderen Kindern aber nicht unähnlich, sagt ihre Mutter Nicole Schreiner. „Sie hat genau die gleichen Bedürfnisse wie andere auch. Man muss nur ihre Signale verstehen.“ So wie jetzt: Annika keucht und haut auf den Tisch, das ist ihre Art, sich am Gespräch zu beteiligen. Dann rüttelt sie am Arm ihrer Mutter. „Willst du auf meinen Schoß?“, fragt Nicole Schreiner und hebt ihre Tochter hoch. Sofort wird das Mädchen ruhiger.

Die Ursache für Rett ist noch nicht lange bekannt. Während das Down-Syndrom schon 1866 beschrieben wurde, hat der Wiener Kinderneurologe Andreas Rett das Syndrom erst 1966 entdeckt. Und es dauerte bis 1999, als Wissenschaftler herausfanden, dass für das Syndrom eine spontane Mutation des MECP2-Gens verantwortlich ist, die sich schon im Mutterleib ereignet.

Das MECP2-Gen ist eine Art Kontrollinstanz, das die Aktivität von vielen anderen Genen steuert. Versagt es wie bei den Rett-Kindern, kann sich das Hirn nicht normal entwickeln. Dass das anfangs nicht auffällt, liegt daran, dass das Protein seine volle Wirkung erst im zweiten Lebensjahr entfaltet. Bis zur Diagnose vergeht oft viel Zeit: Noch immer ist das Syndrom selbst unter Ärzten nicht sehr bekannt. Und so erleben Eltern, die versuchen, herauszufinden, warum ihr gerade noch gesundes Mädchen nicht mehr brabbelt und krabbelt, oft eine wahre Odyssee.

„Warten und rumsuchen, damit habe ich vier Jahre verbracht“, sagt Christiane Büchter. Vor 15 Jahren kam ihre Tochter Janin zur Welt. Die Schwangerschaft war unkompliziert verlaufen, und Büchter freute sich auf eine Tochter, der sie einmal all ihre Ketten, den ganzen Schmuck, den sie selbst so liebt, schenken könnte. „Doch ich hatte schon bald das Gefühl, dass etwas nicht stimmt.“ Da waren zum Beispiel die Schreianfälle, bis zu vier Stunden dauerten sie, ohne Unterlass. Vier Stunden, in denen die Mutter ihr Baby im Kinderwagen durch die Wohnung fuhr. „Ist halt ein Schreikind, das gibt sich schon“, sagte der Kinderarzt. Die besorgte Mutter, die nicht als Glucke gelten wollte, schaukelte ihre Tochter weiter.

Als Janin nicht sprechen lernte, setzte sich die Irrfahrt von Arzt zu Arzt fort. Der eine tippte auf Schwerhörigkeit, der andere auf Autismus. Irgendwann flog Büchter in den Libanon, weil Janins Vater von dort stammt und sich wünschte, dass einmal ein Arzt aus seiner Heimat das Kind untersuche. Der Neurologe sah sich das Mädchen kurz an und sagte: „Sie hat Rett. Fliegen Sie nach Hause und machen Sie einen Gentest.“ Das Ergebnis war positiv. Zu diesem Zeitpunkt war Janin bereits fünf Jahre alt.

Bernd Wilken kennt viele solcher Fälle. „Der Klassiker ist immer noch, dass Eltern zu hören bekommen: Das Kind ist wohl ein bisschen faul, das schicken wir mal zur Krankengymnastik“, sagt der Kasseler Kinderneurologe. Wilken ist der Rett-Experte Deutschlands, im Jahr untersucht er 60 bis 80 erkrankte Kinder, auch Erwachsene, seine älteste Patientin war 54 Jahre alt. Eine Prognose über die Lebenserwartung kann er schwer abgeben, dafür ist die Krankheit noch zu wenig erforscht.

Seit neun Jahren berät Wilken die Elternhilfe für Kinder mit Rett-Syndrom. Für Mütter und Väter, welche die Diagnose gerade bekommen haben, ist dieser Verein unverzichtbar. Sie brauchen Unterstützung, um sich von dem gesunden Kind, das sie zu haben glaubten, zu verabschieden. Denn das ist das Tückische: Während manche Behinderungen sich sofort nach der Geburt zeigen oder wie das Down-Syndrom schon in der Schwangerschaft feststellbar sind, gaukelt Rett Normalität vor – bis mit einem Mal die Regression einsetzt.

Immer mehr versinken die Kinder in ihrer eigenen Welt, entwickeln sich zurück und leiden unter Wein- und Schreiattacken. Als beklagten sie den eigenen Zustand, so scheint es den Eltern. „Janin hat mich zwar noch angeguckt, aber zugleich durch mich hindurch gesehen“, sagt Christiane Büchter über diese Zeit.

Den Moment, als sie das Ergebnis des Gentests bekam, hat sie als Erleichterung empfunden. „Endlich hatte dieser Zustand einen Namen.“ Christiane Büchter hörte auf zu hoffen und begann zu akzeptieren. Die Ketten, die sie ihrer Tochter eines Tages hatte schenken wollen, gab sie alle weg. Stattdessen kaufte sie Janin, die wie die meisten Rett-Mädchen ihre Hände ständig beschäftigen will, Halstücher mit Schnüren daran.

An ihnen zupft Janin unentwegt, als ihre Mutter sie eines Nachmittags in ihrem Heim in Berlin-Spandau besucht. Christiane Büchter hat ihre Tochter zehn Jahre lang zu Hause gepflegt. In all dieser Zeit wachte Janin mehrmals pro Nacht weinend auf, die Mutter versuchte, sie zu beruhigen und daran zu hindern, aus dem Bett zu steigen. Da sie alleinerziehend war, gab es keinen Mann, der ihr half. Und irgendwann, sagt Büchter, habe sie nicht mehr gekonnt.

Heute lebt die 15-jährige Janin gemeinsam mit fünf anderen Kindern und unter der Aufsicht von Betreuern in einer Wohnung. Janins Zimmer ist grün gestrichen, an der Decke dreht sich eine Diskokugel. Janin betrachtet sie oft, den Kopf in den Nacken gelegt. Das Glitzern scheint ihr zu gefallen. Vorlieben herausfinden könne man nur mittels Versuch und Irrtum, sagt Büchter, streicht ihrer Tochter über den Rücken, und das Mädchen rückt näher.

So probieren es auch Annikas Eltern. Die Fünfjährige hat gerade ihre Begeisterung für Pferde entdeckt, allerdings hat das etwas gedauert. Bei den ersten Besuchen auf dem Reiterhof machte sie einen weiten Bogen um das Pony. Die Schreiners gingen wieder mit ihr hin, die Kreise wurden kleiner, inzwischen begrüßt Annika das Pferd mit einem Kuss und ist nach den Besuchen merklich ruhiger. Die Eltern glauben fest daran, dass ihr Kind mehr Potenzial hat als sie beide erkennen. Der Arzt Bernd Wilken formuliert das so: „Vielleicht stimmt es gar nicht, dass die Mädchen uns nicht verstehen. Vielleicht ist das Problem, dass wir die Mädchen nicht verstehen.“

Das könnte sich ändern. 2007 zeigte der britische Genetiker Adrian Bird, dass Rett-ähnliche Symptome von genetisch veränderten Mäusen komplett verschwinden, sobald ihr Körper das MECP2-Gen wieder produziert. Das bedeutet:Womöglich ist die Krankheit durch eine verspätete Zufuhr des Proteins heilbar.

Die Lösung könnte nah sein, doch ist das in der Medizin auch eine Frage des Geldes. 2010 konnte an der Universität Göttingen ein Rett-Forschungsprojekt wegen mangelnder Finanzierung nicht im geplanten Umfang abgeschlossen werden. Nun führt eine kleine Aachener Firma die Bemühungen der Uni Göttingen weiter, zu ihrem Fortschritt äußert sie sich nicht. Gelänge es, eine Substitutionstherapie zu entwickeln, könnte Janin ihrer Mutter in Zukunft vielleicht sagen, was sie gern mag, und Annika würde die Kerzen auf ihrem Geburtstagskuchen einfach auspusten.

In der Zwischenzeit geben die Eltern von Janin und Annika nicht auf. Christiane Büchter beobachtet ihre Tochter sehr genau, zum Beispiel hat sie entdeckt, dass Janin immer, wenn die Windel voll ist, beginnt, auf dem Po hin- und herzurutschen. Bei Schreiners in Brandenburg liegt ein blaues Buch mit Bildsymbolen auf dem Küchentisch, darin sind unter anderem Lebensmittel abgebildet. Vor jedem Abendessen bekommt Annika dieses Buch, ihre Eltern glauben, damit kann ihre Tochter Vorlieben bekunden.Daran, wie abgegriffen die einzelnen Karten sind, lesen sie die Beliebtheit der einzelnen Lebensmittel ab: Brot, Kakao, Gurke und Apfel sind besonders knittrig. Auch jetzt greift Annika nach dem Apfelsymbol – und die Mutter schneidet ihr einen auf.

Die Eltern reichen Annika Spielsachen. Jedes einzelne haben sie selbst hergestellt: In einen alten Kaffeebecher mit Öffnung kann Annika Gardinenringe werfen, in einem Marmeladenglas liegt Watte zum Fühlen für sie bereit. „Man muss eben basteln, basteln, basteln“, sagt der Vater.

Es scheint sich zu lohnen. Seit einigen Monaten macht Annika Laute, „Baba“ zum Beispiel. Sie wüssten nicht genau, was das bedeute, sagt der Vater. Aber vielleicht meint Annika ihn.

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