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Spielfrei. Ingo ist seit mehreren Jahren nicht mehr süchtig.

© Mike Wolff

Spielsüchtig in Berlin: Gelegenheit macht Spieler

Wenn man süchtig nach Glück und Gewinn wird, funktioniert das körpereigene Belohnungssystem nicht mehr. 37.000 Berliner sind davon betroffen und ihre Zahl wächst – ebenso wie die der Casinos in der Stadt.

Sie nimmt die Armbanduhr ab und legt sie vor sich auf den Tisch: „Stoppt mich, wenn ich zu lange rede.“ Dann erzählt sie von ihrem „ersten Mal“: Vor nicht allzu langer Zeit, an jenem Ort, an dem alles „blitzte und blinkte“ und sie dieses Glücksgefühl spürte: „Ganz toll war es da, vor allem das Gewinnen.“

Nennen wir sie Birgitt: „54, Automatenspielerin, seit drei Wochen spielfrei“ – so hat sich die Mutter einer erwachsenen Tochter gerade der Runde vorgestellt. Die schmale, mädchenhafte Frau mit dem langen geflochtenen Zopf sitzt zwischen einem Dutzend Männern bei einem Treffen der Selbsthilfegruppe des Vereins Glücks-Spielsucht-Hilfe in einer schmalen Seitenstraße in Charlottenburg. Ein Mal pro Woche treffen sich hier Menschen, die süchtig sind oder es einmal waren. Fünf Selbsthilfegruppen gibt es in Berlin. Offiziell sind rund 37 000 Menschen in der Stadt spielsüchtig. „Da ist die Dunkelziffer nicht berücksichtigt. Ich schätze eher, es sind um die hunderttausend“, sagt ein Mitarbeiter des Vereins. Und wahrscheinlich werden es immer mehr – im Zusammenhang mit der steigenden Zahl der Spielhallen in Berlin. „Je dichter das Angebot ist, desto mehr gefährdete Menschen kommen in Kontakt mit dem Glücksspiel“, sagt Diplompsychologin Chantal Mörsen, die sich an der Charité in Mitte in einer Sprechstunde um Spielsüchtige kümmert. In Ländern, die noch liberalere Glücksspielgesetze hätten, gebe es wesentlich mehr Süchtige als in Deutschland.

Gefährdet sind viele: Jugendliche etwa. Menschen, die zu impulsivem Verhalten neigen. Denen es an Selbstwertgefühl mangelt. Die gerade ihre Arbeit verloren haben. Die einsam sind. Die den Tod eines Angehörigen verarbeiten müssen. Wer sich auf dieser Liste wiederfindet, kann in Gefahr sein, muss es aber nicht. Warum ein Mensch abhängig wird und ein anderer nicht, wisse man noch nicht, sagt Chantal Mörsen, die zu diesem Thema forscht.

Birgitt ist immer mit ihrem Fahrrad an der blinkenden Spielhalle auf dem Weg nach Hause vorbeigekommen. „Ich war traurig, und aus einer Stimmung heraus bin ich irgendwann reingegangen.“ Sie fand einen Ort, der abgeschottet war – von der Außenwelt und von ihren Problemen. Sie kam immer wieder, es lag ja am Weg. Und in Berlin liegen fast überall und für jeden Spielhallen am Weg. „Die schießen wie die Pilze aus dem Boden, es ist schwer da vorbeizugehen“, sagt Birgitt. In manchen Bezirken hat sich ihre Zahl in der letzten Zeit fast verdoppelt. Das beschäftig auch die Politik. Bald soll ein neues Spielhallengesetz in Berlin für Abhilfe sorgen, der Entwurf ist fertig. Doch er geht vielen noch nicht weit genug. Gregor (Name geändert) etwa, der neben Birgitt sitzt, ist schon oft rückfällig geworden und meint, die Zahl der Casinos müsse drastisch reduziert werden.

Das nächste Casino ist nicht weit von dem Haus entfernt, in dem die Selbsthilfegruppe stattfindet. Ingo, „45, Automatenspieler“ sagt, er könne dort inzwischen ohne Probleme wieder vorbeigehen. Er sei schon seit Jahren nicht mehr süchtig – abgesehen von kleineren Rückfällen. Mit achtzehn fing bei ihm alles an. Die Disco, in die er immer mit seinen Kumpels ging, lag direkt neben einer Spielhalle. „Ich war nicht so der große Tänzer.“ Also ging er irgendwann aus Neugier durch die andere Tür. Dort gewann er. „Ich hatte Erfolg und war ein Held. Das fühlte sich an wie beim Kiffen.“ Tatsächlich könne beim Gewinnen im Gehirn Ähnliches wie beim Drogenkonsum geschehen, sagt Psychologin Mörsen: Es werde eine große Menge des Botenstoffs Dopamin freigesetzt. Ein Glücksgefühl rauscht durch den Körper. Das will man wieder erleben.

„Die Sucht ist ein erlerntes Verhalten: Das Belohnungssystem im Gehirn wird sozusagen vom Suchtmittel gekidnappt“, sagt Psychologin Mörsen. Es entstehen neuronale Veränderungen im Gehirn. Und irgendwann macht nur noch das Spielen glücklich, denn nur noch beim Gewinnen wird Dopamin freigesetzt – nicht mehr beim Fahrradfahren oder bei einem guten Essen wie früher. Schließlich nutzt sich auch das Gewinnen ab, immer geringer wird der Dopaminausstoß dabei. Nichts macht mehr Spaß. Und die Schulden werden oft drückend. So endeten viele Spielerkarrieren in einer Depression, sagt Chantal Mörsen. Hinzu kämen Kreislaufprobleme, Schlafstörungen und schließlich sogar Herzerkrankungen, zählen die Teilnehmer der Selbsthilfegruppe auf. Ingo sagt, er habe oft an Selbstmord gedacht. Doch dann habe er die Selbsthilfegruppe gefunden. Viele bräuchten auch eine richtige Therapie, sagt Chantal Mörsen. Dabei muss das Gehirn des Spielsüchtigen lernen, Dopamin wieder bei anderen Gelegenheiten auszuschütten.

Und die Patienten müssen mit dem Therapeuten in eine Spielhalle gehen: „Dort sollen sie den Drang zu spielen so lange aushalten, bis sie merken, dass er auch dann nachlässt, wenn man nicht an den Automaten geht“, sagt die Psychologin. Detlev, 70, und „seit 50 Jahren spielsüchtig“, hat neulich allerdings den Fehler gemacht, allein in ein Casino zu gehen: „Ich wollte mal sehen, ob ich schon stabil bin.“ Er war es nicht.

Infos: www.gluecksspiel-sucht-hilfe.de, Tel. 33020453; Charité: Tel. 45061712; http://ag-spielsucht.charite.de; „Fachgespräch Glücksspielsucht“, 3. März, 13.30 Uhr, Rathaus Pankow, Breite Straße 24a

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