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Stürze: Eine Sekunde lang nicht aufgepasst

Mehr als 30 Prozent aller Menschen über 65 fallen mindestens einmal im Jahr hin. Gefährlich sind nicht nur winterglatte Straßen, sondern auch die Wohnung Das Evangelische Waldkrankenhaus Hubertus gibt Tipps zur Vermeidung und versucht, den Betroffenen die Angst vor einem neuen Sturz zu nehmen

Der Schock sitzt immer noch tief. Er lässt den Mann – nennen wir ihn Herrn Flieger – einfach nicht los. Kaum, dass er die Straße betritt, schießt die Erinnerung in seinen Kopf: Wie er da aus dem Haus kommt, seinem Ziel zustrebt und für den Bruchteil einer Sekunde unaufmerksam ist. Und schon war es passiert. Der 75-jährige rüstige Rentner stolpert über einen aus dem Trottoir ragenden Stein. Er kann sich weder festhalten noch Brille, Zähne, Mund und Nase in Sicherheit bringen und fliegt, so lang er ist, auf ein granithartes Steinmosaik. Den Sturz definiert die Medizin als „ein unfreiwilliges, plötzliches, unkontrolliertes Herunterfallen oder -gleiten des Körpers auf eine tiefere Ebene aus dem Stehen, Sitzen oder Liegen“. Wie dem auch sei: Herr Flieger flog, so lang (1,78 m) und schwer (85 kg) er war, auf die Nase. Es hätte auch in der Wohnung oder beim Rennen nach dem Bus passieren können. Jedenfalls eilten sofort hilfreiche Passanten zum Tatort, boten an, einen Krankenwagen zu rufen und spendeten Taschentücher für den dunkelroten Strom, der aus der Nase quoll. Herr Flieger dankte, etwas verwirrt, für die Hilfe. Seine Knie waren aufgeschlagen, die Hände, auf denen er gelandet war, schwollen an. Dafür waren die Zähne heil geblieben, und der Brille war auch nichts passiert. Dennoch sagte er sich: sicher ist sicher, fuhr ins nächstgelegene Hospital, geriet an eine junge Chirurgin, deren sportliche Schönheit, wie er später behauptete, seinen Heilungsprozess wesentlich beförderte, und erfuhr nach dem Röntgen, dass er haarscharf an einem Knochenbruch vorbeigeflogen sei. So wurde die schlimme linke Hand weder geschient noch gegipst, sondern nur mit einer Salbe bestrichen und einen blauen Verband gewickelt. Inzwischen hämmert Herr Flieger wieder auf die Tastatur seines Computers.

Aber vorher war er noch, aus aktuellem Anlass, im Evangelischen Krankenhaus Hubertus in Zehlendorf. Dort gab es kürzlich einen „Tag der Altersmedizin“. Das ganze Haus war für viele wissbegierige Gäste empfangsbereit – mit Kaffee und Kuchen, Vorträgen und Demonstrationen, Physiotherapien zur Sturzvorbeugung und Fitnesstraining zur Prävention. „Schwungvoll im Alter – aber sicher“ war die Überschrift für das lobenswerte Unterfangen, das wohl auch deshalb auf ein reges Interesse stieß, weil mehr als 30 Prozent aller Menschen über 65 mindestens einmal im Jahr stürzen, meist in der eigenen Wohnung, bei normalen Alltagsaktivitäten, also auch beim Gang zum Einkaufsladen.

Herr Flieger hat demnach sein statistisches Soll im Hinfallen für dieses Jahr erfüllt, aber er wird ja nicht jünger. Bei den über Achtzigjährigen stürzen schon 50 Prozent einmal jährlich, doch 90 Prozent von ihnen haben einen Schutzengel. Zehn Prozent werden verletzt, müssen behandelt werden, und ein Prozent bricht sich irgendeinen Knochen, den Unterarm oder den Oberschenkelhals.

„Lange leben möchten wir alle, aber alt werden möchte keiner“, sagt Dr. Hans-Jürgen Nabel, der Chefarzt der Abteilung für Akutgeriatrie am Hubertus-Krankenhaus, und erklärt temperamentvoll das Phänomen Sturz und was man dagegen tun kann. Bei den Gefahrenquellen sind mehrere Risikofaktoren zu beachten – umgebungs- und patientenbezogene. Zu ersteren gehören etwa ein nasses Blatt auf dem Boden, die sprichwörtliche Bananenschale, eine nicht beachtete Stufe oder eine zu hohe Teppichkante. Unter patientenbezogenen Risikofaktoren versteht man unter anderem die Auswirkungen eingeschränkter Mobilität im höheren Lebensalter oder funktionelle Defizite wie Muskelschwäche. Störungen der Balance und des Ganges verdreifachen das Sturzrisiko fast. Altersphysiologische Veränderungen wie eine jährliche Kraftminderung um etwa ein Prozent tragen ebenso zur Unsicherheit beim Gehen bei wie ein Schlaganfall mit seinen Folgen, Drehschwindel, zu hoher oder zu niedriger Blutdruck oder der Beginn der Parkinsonschen Krankheit mit unsicheren, immer kürzer werdenden (Trippel-)Schritten.

Auch der Lebensstil älterer Menschen, verminderte Bewegung, schlechtes Sehvermögen, Mangel an Muskeltraining oder einfach nur gutes, zu gutes Essen begünstigen Balance- und Gangstörungen. Zwei Millionen Menschen sind in Deutschland von Schlafmitteln abhängig – auch Psychopharmaka, Antidepressiva und schließlich Alkohol sind Sturzrisiken. Bei 90 Prozent aller Gestürzten wird Angst vor einer Wiederholung dieses elementaren Erlebnisses registriert.

Wie kann man sich von dieser Angst wenigstens ein bisschen befreien? „Altersmedizin ist ein modernes Fachgebiet, wir sind hier nicht im Siechenhaus“, sagt Hans-Jürgen Nabel und zitiert Liza Minnelli, selbst 64: „Altwerden ist nichts für Weicheier“. Mit 66 fängt zwar nicht das Leben an, aber man kann einiges tun, um dem altersgerechten Hinfallen Paroli zu bieten: Bewegen ist wichtig, körperliches Training verringert die Sturzquote um 15 bis 30 Prozent, auch Vitamin D beugt Stürzen vor. Chefarzt Nabel freut sich, dass Sportvereine ältere Menschen entdecken und die Industrie muskelfördernde Gerätschaften für zu Hause entwickelt. „Sehr gut ist das Tanzen“, sagt er, „ein- bis zweimal pro Woche, es muss ja nicht gleich Rock’n’ Roll sein, langsamer Walzer, Rumba, Tango oder Foxtrott stärken Muskeln und Gleichgewicht. Außerdem macht’s Spaß“. Leider sind die Männer Tanzmuffel. Dr. Nabel entdeckte letztens auf der Queen Mary acht Herren, die nur engagiert waren, um Damen beim Tanze übers Parkett zu schwenken. Liza Minnelli hat recht!

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