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Gesundheit: Trauriger Stammbaum

Beim Entstehen psychischer Krankheiten gehen Erbanlagen und Umwelt eine unheilige Allianz ein

Sind psychische Krankheiten das Ergebnis negativer Ereignisse in der persönlichen Geschichte oder sind sie biologisch vorherbestimmt? Der alte Streit „Umwelt oder Gene“ sollte längst vorbei sein, die Antwort scheint banal: beides. Wie kompliziert dies aber ist und welche konkreten Folgen für die Behandlung es haben kann, belegen Forschungsergebnisse aus jüngster Zeit über das Zusammenspiel der verschiedenen Auslöser von Depressionen, Schizophrenie oder Alkoholkrankheit. Die Studien zeigen: Eine genetisch bedingte Anfälligkeit für psychische Leiden bricht oft erst aus, wenn belastende Lebensumstände hinzukommen.

Bekannt ist aus Studien mit eineiigen Zwillingen, dass zum Beispiel die Schizophrenie etwas mit der Vererbung zu tun haben muss. Normalerweise trifft sie etwa einen von 100 Menschen. Ist der Bruder oder die Schwester erkrankt, steigt das Risiko auf zehn Prozent, bei eineiigen Zwillingen auf das 50-fache. Bei Personen mit erhöhtem Erbrisiko für Schizophrenie sind die Mengen der Eiweißstoffe, die von bestimmten Erbbausteinen hergestellt werden, verändert. Dabei gibt es nicht „das“ Schizophrenie-Gen, sondern verschiedene beteiligte Bausteine. Und es müssen Einflüsse aus der Umwelt hinzukommen, die dann zur seelischen Dekompensation führen. Jeder könne also ein Risikokandidat sein, sagt der Psychiater Peter Falkai von der Universitätsklinik Homburg/Saar.

Wie genau sich stressvolle Lebensereignisse auf die erblich bedingte Empfindlichkeit aufpfropfen, hat die Arbeitsgruppe des Psychiaters Andreas Heinz von der Berliner Charité am Beispiel der Depression untersucht. In einer im Fachblatt „Nature Neuroscience“ veröffentlichten Untersuchung weist sie nach, dass Abweichungen im Erbgut für sich genommen erst einmal nur geringen Einfluss auf die Stimmungslage haben.

Eine wichtige Rolle bei Depressionen spielt Serotonin, ein Botenstoff im Gehirn. Serotonin ist mitentscheidend für das Wohlgefühl, vermittelt angenehme Empfindungen und ist bei depressiv Kranken vermindert. Das Serotonin-System ist besonders stressanfällig. So haben Rhesusaffen, die ohne Mutter aufwachsen, einen deutlich verringerten Serotonin-Umsatz mit der Folge erhöhter Ängstlichkeit oder – bei Männchen – Aggressivität.

Moderne Medikamente gegen Depression greifen genau hier ein: Sie blockieren den Recyclingmechanismus, um die Verfügbarkeit des Botenstoffes zu steigern (Serotonin-Wiederaufnahmehemmer). Bei etwa 40 Prozent der Menschen in Mitteleuropa konnte eine Veränderung an jenem Gen nachgewiesen werden, das für den Serotonin-Transport zuständig ist.

Heinz legte Patienten in den Hirnscanner. So war es möglich, Stoffwechselvorgänge im Gehirn zu studieren. Er konnte nachweisen, dass die Depression nur bei wenigen Patienten allein durch genetische Veränderung erklärbar ist. Vielmehr steuert das Serotonin die Verarbeitung von negativen Gefühlen in einer Hirnregion namens Mandelkern (Amygdala), während positive Emotionen nicht beeinflusst werden.

Die Erbgutveränderung allein bewirkt aber noch keine Depression. Die Studie des Berliner Psychiaters zeigt nämlich, dass das Vorderhirn andererseits die Emotionsausprägung bei genetisch empfindlichen Menschen dämpft und abfedert. Psychosozialer Stress lässt diesen Ausgleich zusammenbrechen.

Tatsächlich haben amerikanische Forscher herausgefunden, dass erst nach mehreren belastenden Lebensereignissen der Serotonin-Umsatz bei entsprechender erblicher Veranlagung abfällt, dann aber besonders stark.

In einer zweiten Arbeit, die demnächst im Fachblatt „Archives of General Psychiatry“ erscheint, weist das Expertenteam um Andreas Heinz nach, dass Veränderungen der Serotonin-Transporter auch bei der Alkoholkrankheit eine wichtige Rolle spielen. Bestimmte Menschen vertragen bekanntlich mehr Alkohol. Bei Jugendlichen ist dies, sagt Heinz, „kein Schutz, sondern eine Gefährdung“, da dies die Spirale zum Alkoholismus in Gang setzen kann.

Alkoholabhängige haben eine Erhöhung ausgerechnet jener Andockstellen für körpereigene Belohnungsstoffe (Opiatrezeptoren), die eine angenehme Wirkung des Alkoholkonsums vermitteln. Normalerweise haben Opiatrezeptoren, die zum Beispiel durch leckeres Essen aktiviert werden, auch die Aufgabe, Gefühle von Sicherheit und Geborgenheit zu vermitteln. Der Berliner Fachmann konnte nun nachweisen, das Menschen, bei denen bestimmte Andockstellen (mu-Opiatrezeptoren) vermehrt vorkommen, ein besonders starkes Alkoholverlangen haben. Das könnte erklären, warum Medikamente nicht bei allen alkoholkranken Patienten helfen.

Doch auch hier spielen Gene und Umwelt zusammen: Zwar ist etwa die Hälfte der verminderten Alkoholempfindlichkeit (die den Weg in die Sucht bahnen kann) erblich bedingt, aber Alkoholmissbrauch wird besonders bei jenen Menschen zur Krankheit, die zusätzlich zur Genvariante sozialem Stress (etwa: Arbeitslosigkeit) ausgesetzt sind. Zusätzlich setzen die mu-Rezeptoren den Hirnbotenstoff Dopamin frei, der offenbar den Alkoholkonsum steigern kann. Mit diesen Forschungsergebnissen wird das Fundament für eine Therapie nach Maß gelegt, hoffen die Wissenschaftler.

Justin Westhoff

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