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Gesundheit: Über die fließenden Grenzen zwischen Vorsicht und Angst

"Stimmt es, dass ich mich mit BSE anstecken kann, wenn ich lange auf meinem Rindsledersofa sitze?" So lautete eine Leseranfrage an eine deutsche Tageszeitung.

"Stimmt es, dass ich mich mit BSE anstecken kann, wenn ich lange auf meinem Rindsledersofa sitze?" So lautete eine Leseranfrage an eine deutsche Tageszeitung. Walter Krämer und Gerald Mackenthun zitieren sie in ihrem Buch "Die Panikmacher" fast schon genüsslich. Zeigt die Anfrage doch aufs Eindrücklichste, dass Dummheit und Hysterie oft gepaart auftreten, wenn Menschen Wind davon bekommen, dass irgendwo und irgendwie Gefahr im Verzug ist.

Doch wir müssen mit - natürlichen und menschengemachten - Risiken leben. Und unser Risiko, eines Tages zu sterben, also einer der Gefahren, die das Leben birgt, endgültig zu erliegen, beträgt 100 Prozent. Der Mathematiker und Wirtschaftswissenschaftler Krämer ("Lexikon der populären Irrtümer") sowie der Journalist, Politologe und Psychologe Mackenthun setzen ihren vereinten Sachverstand ein, um den Leser auf die Bahn eines etwas cooleren Umgangs mit den Gefahren zu lenken.

Die Übergänge zwischen vernünftiger Vorsicht und neurotischer Ängstlichkeit sind fließend. Beispiele für beides: Man sollte zweifelsohne Deiche bauen, Kondome benutzen und gegen gefährliche Krankheiten impfen. Auch sich im Auto anzuschnallen ist vernünftig - selbst wenn Angeschnallte oft "zum Ausgleich" unvorsichtiger fahren, was uns mit der einleuchtenden Theorie vom eingebauten "Risikothermostaten" erklärt wird: So hat der Mensch das Bestreben, den Gefahrenpegel stets ungefähr gleich zu halten, im "sicheren" Mercedes fährt er also schneller. Trotzdem: Airbag und Sicherheitsgurt sind begrüßenswerte Erfindungen.

Ob das für das offizielle schriftliche Verbot des (tatsächlich gefahrenträchtigen) Konsums von Erdnüssen durch Kleinkinder auch gilt, das in Norwegen besteht, oder ob Besucher von Rockkonzerten zum (zweifellos sinnvollen) Tragen von Ohrstöpseln verpflichtet werden sollten, ist schon unsicherer. Eine Risikoabwägung ergibt den Autoren zufolge auch, dass man Schüler weit größeren Gefahren aussetzt, wenn man Schulgebäude wegen Asbest-Gefahr schließt und sie in der dann freien Zeit nicht beaufsichtigt.

Amalgam und Zähneputzen

Grotesk werden ihre Beispiele schließlich beim alten, aber immer noch praxisrelevanten Thema Amalgam: Da gibt es etwa die Empfehlung, das Zähneputzen ganz einzustellen, weil man nur so verhindern könne, dass gefährliches Quecksilber aus den Füllungen entweicht. Risikoscheu ist oft die größere Gefahr, nicht nur für "eingebildete Umweltkranke": Sie ist allgegenwärtig bei Patienten, die nach der Lektüre des Beipackzettels das Medikament nicht nehmen, weil sie dessen Nebenwirkungen fürchten.

Das positive Gegenstück zum Angsthasen, der das Cover des Buches ziert, wäre eigentlich eine Waage. Denn der richtige Umgang mit Risiken besteht für die Autoren im Abwägen und Unterscheiden. Diese Tugenden versuchen sie bei den Themen BSE und Tschernobyl unter Beweis zu stellen. Freilich darf man beim Thema Atomkraft dennoch Bedenken anmelden: Denn in die Risikoanalyse beziehen sie nur die bisher von Unfällen ausgegangene Strahlen-Gefahr, nicht das ungelöste Problem der Endlagerung ein.

Gegen Gefahren genügend gerüstet?

Sicher sind die Fallbeispiele nicht im üblichen Medien-Sinne "brandaktuell". In einem solide recherchierten Buch ist das nicht anders zu erwarten. Der Qualitätsbeweis liegt aber darin, ob die grundsätzlichen Überlegungen auf aktuelle Beispiele anwendbar sind. Und das gelingt etwa im Fall der Katastrophenmedizin, über die nach dem 11. September, nach ersten Milzbrandattacken und Ängsten vor weiteren Anschlägen, überall ausführlich diskutiert wurde.

Sind wir überhaupt genügend gegen solche Gefahren gerüstet, so lautete überall die erschreckte Frage. Wer Mackenthun und Krämer in ihren Überlegungen folgt, hält die Frage schlicht für falsch gestellt. Wir können für potenzielle Notfälle angesichts begrenzter Ressourcen nicht grenzenlos Vorsorge treffen - und wir müssen es auch nicht.

Denn wir müssen unterscheiden: "Natürlich sind zur Rettung konkreter Menschen keine Kosten und Mühen zu scheuen. Das heißt aber nicht, dass wir nicht vor Eintreten des Eventualfalls, und die Betonung liegt hier auf: vor Eintreten des Eventualfalls, die Kapazitäten beschränken dürften, denn das trifft keine konkreten, bei der Entscheidung schon bekannten Menschen, sondern nur die Wahrscheinlichkeit eines frühzeitigen Todesfalls nähme für alle Bundesbürger zu, und das ist ein großer und zentraler Unterschied."

Zur richtigen Risikobewertung gehört eben der Vergleich. Eine Substanz wird als gefährlich beschrieben? Die Autoren empfehlen die Gegenprobe: "Verglichen mit welchem anderen Risiko?" "Tränenrührende Einzelfälle" sind kein Ersatz für fundierte Studien. Ein Glück: So ist auch die Geschichte vom Rindsledersofa nicht geeignet, alle Deutschen als Angsthasen zu brandmarken.

Adelheid Müller-Lissner

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