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Gesundheit: Unter den Augen der Kritiker

Das Image der privaten Medizin-Uni Witten ist angeschlagen. Kann sie sich noch retten?

Die Medizinische Fakultät der privaten Universität Witten-Herdecke kämpft ums Überleben. Und sie könnte Erfolg haben – trotz des vernichtenden Guthabens, das der Wissenschaftsrat im Juli veröffentlichte (Tagesspiegel vom 25. Juli 2005). Vielleicht gerade wegen dieser heilsam-harten Kritik. „Witten muss dem Wissenschaftsrat eigentlich zu Dank verpflichtet sein“, sagte Matthias Schrappe dem Tagesspiegel. Der Ärztliche Direktor des Universitätsklinikums Gießen und Marburg, designierter Dekan der Medizinischen Fakultät Witten- Herdecke, stimmt dem Wissenschaftsrat in vielen Punkten zu. Schrappe hält die Bildung von Forschungsschwerpunkten und eine wirksamere Vernetzung der vielen akademischen Lehrkrankenhäuser ebenfalls für dringend notwendig – und für durchaus möglich.

Was aber die Lehre betrifft, so glaubt er an das Wittener Konzept vom praxisnah ausgebildeten Arzt, der „auch andere Dimensionen des Denkens kennen lernt“, wie sie das Wittener „Studium fundamentale“ vermitteln will. Es war der Wissenschaftsrat, der schon 1988 feststellte, dass in der deutschen Hochschulmedizin „derzeit auch der Anschein nicht aufrechterhalten werden kann, bei der bestehenden Situation könne eine angemessene … Ausbildung vermittelt werden“.

Das galt damals für alle Medizinischen Fakultäten, nur nicht für Witten-Herdecke. Die Hochschule war 1982 mit dem Ziel gegründet worden, die lebensferne Ausbildung der Ärzte vom Kopf auf die Beine zu stellen. Lange bevor die neue Approbationsordnung von 2003 Modellstudiengänge zuließ, entwickelte sie ein Reformcurriculum, das wiederum zum Vorbild aller Innovationsversuche in der Hochschulmedizin wurde. Umso mehr verstörte jetzt viele das Verdikt: „Der Wissenschaftsrat hält es für nicht länger verantwortbar, die Medizinerausbildung in ihrer derzeitigen Form an der Universität Witten-Herdecke fortzuführen.“ Von den Langzeitwirkungen eines „Konstruktionsfehlers“ spricht Dieter Scheffner, Fakultäts-Beauftragter für den Reformstudiengang Berlin, den er als Dekan wesentlich mit aufbaute. In Witten habe man anfangs ganz auf das antroposophische Krankenhaus gesetzt und dann mit zu vielen und zu verschiedenen Kliniken zusammengearbeitet. Schwierig, daraus eine Fakultät zu schmieden – obwohl die Anthroposophie heute nur noch eine marginale Rolle spiele. Zudem gab es häufige Wechsel an der Spitze von Uni und Fakultät.

Jetzt hoffen die Wittener Mediziner auf Matthias Schrappe. Der ist ein ausgewiesener Experte für das Hochschulmanagement: Der 1955 in Hamburg geborene Internist, spezialisiert auf Infektiologie und Onkologie, hat als Ärztlicher Direktor des Uni-Klinikums Marburg seit 2002 die Fusion mit dem Klinikum Gießen gestemmt und die Privatisierung vorbereitet. Vorher war er im Management der Uni-Kliniken Köln und gründete dort 2001 das Zentrum für Versorgungsforschung. Als Fachmann für Fehlervermeidungssysteme wurde er Vorsitzender der „Gesellschaft für Qualitätsmanagement in der Gesundheitsversorgung“ und des „Aktionsbündnisses Patientensicherheit“.

Eine Findungskommission hatte schon seit Anfang dieses Jahres nach einem neuen Dekan für die Wittener Fakultät gefahndet, und zwar nach einem hauptamtlichen. Olaf Kaltenborn, Sprecher der Universität Witten-Herdecke, rechnet damit, dass der akademische Senat diese „Personalie“ am 6. September problemlos absegnet.

Schrappe selbst hat nichts dagegen, wenn man von einer „Rettungsaktion“ spricht. Er liebt offenbar die Herausforderung, sehr schwierige Aufgaben in Angriff zu nehmen. Die Zeit drängt. Der Wissenschaftsrat gibt der Hochschule drei Jahre: „Entweder entwickelt sie für die Humanmedizin eine grundlegende Neukonzeption oder aber sie stellt sie vollständig ein.“ Letzteres würde eine Entkernung der Universität bedeuten, denn die Medizin war und ist ihr Nukleus.

Eigentlich bleibt Schrappe jedoch nur ein Jahr. Denn die Landesregierung genehmigte zwar noch die Zulassung von Studienanfängern zum Sommersemester 2006, weil der Auswahlprozess (1200 Bewerbungen auf 42 Studienplätze) schon im Gange war, erwartet aber bis dahin eine „geeignete Neukonzeption“. Eine Projektgruppe der Universität hat jetzt alle Kritikpunkte im 130-Seiten-Gutachten des Wissenschaftsrats in einer Datenbank mit 168 Punkten eingegeben und sie alle mit „richtig“, „falsch“ oder „klärungsbedürftig“ bewertet. Sie abzuarbeiten, wie es Universitätspräsident Wolfgang Glatthaar ankündigte, bedeutet natürlich noch kein neues Konzept.

Aber Schrappe hat schon einiges im Hinterkopf. Der Dekan in spe will nicht nur all diese Schwächen angehen, sondern „die Wittener Stärken nutzen“. Als Stärke betrachtet er die idealen Möglichkeiten zur interdisziplinären, interprofessionellen und interinstitutionellen Zusammenarbeit: Die Hochschulmedizin kooperiert mit Kliniken aller Versorgungsstufen und mit Arztpraxen. Zur Fakultät gehören verschiedene Gesundheitswissenschaften und zwei Pflegestudiengänge, und es gibt auch eine Fakultät für Biowissenschaften. All dies seien potenzielle Partner für gemeinsame Forschungsanstrengungen, wie klinische Studien und ihre Umsetzung in die Alltagswirklichkeit sowie vielerlei Projekte der Versorgungsforschung, die in Deutschland noch immer unterentwickelt ist.

Mit einem Dekan, der sich in den USA auch epidemiologisch schulen ließ, könnte in Witten-Herdecke künftig ein solcher Forschungsschwerpunkt entstehen. Denn was nützt zum Beispiel die beste zellbiologische Forschung, sagt Matthias Schrappe, wenn die Ergebnisse den Patienten nicht zugute kommen?

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