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Gesundheit: Unter Druck

Jeder zweite bis dritte Amerikaner könnte bald als hochdruckkrank gelten – weil es eine neue Definition gibt

Wo genau beginnt eigentlich hoher Blutdruck (Hypertonie)? Ab welchem Wert sollte man in dem Bewusstsein leben, ein Gesundheitsrisiko mit sich zu tragen, obwohl man sich eigentlich ganz wohl fühlt? Wann sollte man mit Medikamenten gegensteuern? Darüber, ob es der Bevölkerung nützt, wenn die Schwelle für das Eingreifen weiter abgesenkt wird, streiten die Mediziner in den USA.

Die Nationalen Gesundheitsinstitute der USA kamen vor drei Jahren überein, Werte zwischen den optimalen 120 zu 80 und einem – bei über 60-Jährigen durchaus mehrheitsfähigen – Wert von 139 zu 89 als Prähypertension, also als Vorstufe des Hochdrucks, einzustufen.

Dass damit ein Drittel der erwachsenen US-Bevölkerung ein Besorgnis erregendes Etikett angeheftet bekommt, rief einiges Kopfschütteln hervor. Nun hat sich die Lage nochmals verschärft, wird doch jenseits des großen Teichs neuerdings seitens der Bluthochdruck-Fachgesellschaft, der American Society of Hypertension, dafür geworben, die leicht erhöhten Werte schon als „Hypertension der Stufe eins“ zu klassifizieren.

In den USA leben 65 Millionen Menschen mit der Diagnose „hoher Blutdruck“. Dank der neuen, strengeren Definition könnten es bald doppelt so viele sein. Vom Etikett „Hochdruck“ bis zur Verordnung von Pillen sei es nur ein kleiner Schritt, warnt die „New York Times“.

Der Streit entzündet sich auch an der leidigen Frage, ob die Hersteller von Hochdruck-Medikamenten auf die Empfehlungen Einfluss genommen haben. Drei Firmen – Merck, Novartis und Sankyo – hatten 700 000 Dollar für „Dinner lectures“ gespendet. Beim gesponserten Abendessen wurden Mediziner mit den neuen, strengeren Maßstäben bekannt macht. „Auch bei uns versuchen die Firmen, über die Beeinflussung der Leitlinien von Fachgesellschaften den Markt zu beeinflussen“, warnt der Internist Peter Sawicki, Leiter des Instituts für Qualität und Wirtschaftlichkeit im Gesundheitswesen. Fast alle großen Hochdruck-Studien werden von der Industrie finanziert, fast alle Experten haben finanzielle Verbindungen zu den Firmen. „Die Abhängigkeiten müssen offen gelegt werden“, fordert Sawicki. „In dieser Hinsicht ist Deutschland ein Entwicklungsland.“

Auch Hermann Haller, Vorsitzender der Deutschen Hochdruckliga, sieht die „Ausweitung des Krankheitsbegriffs“ in den USA ausgesprochen kritisch. „Wenn wir mit der Diagnose Bluthochdruck nicht vorsichtig umgehen, laufen wir Gefahr, dass die Patienten unsere Empfehlungen nicht mehr ernst nehmen.“

Auf den ersten Blick gibt jedoch eine vor kurzem im Fachblatt „New England Journal of Medicine“ veröffentlichte Studie den Verfechtern strengerer Grenzwerte Recht. Hier wurden 772 Personen im fraglichen Vor-Hochdruck-Bereich für zwei Jahre entweder mit Candesartan, einem neuen Präparat aus der Gruppe der Angiotensin-Rezeptor-Blocker, oder mit einem Scheinpräparat behandelt. Dann bekamen alle für zwei weitere Jahre das Placebo. Bei Studienabschluss hatten die Teilnehmer, die das Mittel Candesartan genommen hatten, deutlich seltener einen echten Hochdruck. Die Autoren schließen daraus, dass die frühe Behandlung den Ausbruch eines „echten“ Hochdrucks effektiv verhindern kann.

Doch Kritiker monieren, dass damit der Nutzen der Behandlung längst noch nicht bewiesen ist. Denn deren Ziel kann es nicht sein, bei Kontrolluntersuchungen schön niedrige Werte ablesen zu können. Entscheidend ist, ob die Therapie einen frühen Tod oder bleibende Behinderungen durch Schlaganfälle und Herzinfarkte verhindert.

„Die Hypertonie sollte als die Blutdruckhöhe definiert werden, ab welcher Diagnostik und Behandlung für den Patienten von Vorteil sind“, heißt es bei der Hochdruckliga. Dort werden Werte bis 139 zu 89 derzeit als „hoch normal“ bezeichnet, erst ab 140 zu 90 beginnt die leichte Hypertonie. Sie muss in mehrfachen Messungen bestätigt werden. Unter Berücksichtigung eines Phänomens, das die Mediziner als Weißkittel-Hypertonie kennen: Schon der Anblick ihres mit dem Messgerät bewaffneten Arztes lässt bei manchen den Blutdruck nämlich in ungewohnte Höhen schnellen.

Inzwischen haben Studien gezeigt, dass es bei bestimmten Patientengruppen – etwa bei Diabetikern und bei Menschen, die schon unter Arteriosklerose leiden oder einen Infarkt überstanden haben – durchaus sinnvoll ist, den Blutdruck mit Medikamenten streng niedrig zu halten. Vor allem bei leicht erhöhten Blutdruckwerten bringt es manchmal aber schon den erwünschten Erfolg, sich mehr zu bewegen und mit Salz wie Alkohol etwas sparsamer umzugehen.

Adelheid Müller-Lissner

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