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Gesundheit: „Unterricht zum Holocaust ist oft schräg“

Antisemitismus im Klassenzimmer – was kann man dagegen tun? Der Pädagoge Bernd Fechler weiß Rat

BERND FECHLER (40)

ist Diplompädagoge und Bildungsreferent der Jugendbegegnungsstätte Anne Frank in Frankfurt am Main.

Foto: Oliver Wolters

Herr Fechler, wie äußert sich Antisemitismus im Klassenzimmer?

Neuerdings verbreitet sich das Schimpfwort „du Jude“. Lehrer, die zum ersten Mal in ihrer Laufbahn mit diesem Tabubruch konfrontiert werden, sind schockiert. „Die Juden sind schuld“ – in dieses Statement münden immer wieder politische Diskussionen zwischen Schülern und Lehrern, am häufigsten dann, wenn es um die Lage in den palästinensischen Gebieten geht. Die israelische Besatzungspolitik wird mit den Methoden der Nazis verglichen. Die Jugendlichen sagen dann „Scharon ist wie Hitler“.

Stammen diese Schüler aus muslimischen Familien, die ja nach letzten Studien für den neuen Antisemitismus in Europa stark mitverantwortlich sind?

Antisemitismus ist in islamisch-arabischen Ländern tatsächlich weit verbreitet. In welchem Ausmaß dieser über Satelliten-TV und Internet in die Köpfe und Herzen junger Migranten Eingang findet – darüber wissen wir leider noch viel zu wenig. Einseitige Schuldzuweisungen für die sehr komplexe Situation im Nahen Osten sind aber auch unter deutschen Jugendlichen beliebt – und nicht selten auch unter Erwachsenen. Manche Globalisierungsgegner etwa verrennen sich in Verschwörungstheorien zum 11. September, glauben, dass der israelische Geheimdienst hinter den Anschlägen steckte und jüdische Arbeitnehmer im World Trade Center gewarnt worden wären. Mit Schülern, deren Eltern selber aus arabischen Staaten stammen, eskalieren die Diskussionen allerdings leicht. Mir hat schon ein junger Migrant entgegengeschleudert: „Ich hasse alle Juden, ich hasse sie.“ Von einem deutschen Pädagogen, der in seinen Augen „sowieso keine Ahnung hat, weil er für die Juden ist“, wollte er sich keine Argumente mehr anhören.

Was bedeutet es, wenn sich Schüler gegenseitig als „Jude“ oder als „Opfer“ beschimpfen?

Wenn beide Begriffe synonym verwendet werden, ist das perfide. „Jude“ wird hier auf „Opfer“ reduziert und gleichzeitig verhöhnt. „Opfer“ steht für Schwächling, Weichei. Jemanden als „Opfer“ zu beschimpfen, heißt aber auch, dass man selber keines sein will: Ich bin kein Fall für den Sozialarbeiter, ich mache mein Ding, kann auch Täter sein und mich an der Gesellschaft rächen, die mich benachteiligt.

Wie sollten Pädagogen auf diese Schimpfworte reagieren?

Sie sollten die Jugendlichen fragen: Was meinst du damit? Es kann auch eine Konkurrenz der Opfer dahinter stehen, dass etwa junge Migranten auf ihre Diskriminierung hierzulande aufmerksam machen wollen. Problematisch wird es, wenn es dann heißt: „Die Palästinenser sind die ‚Juden’ der Juden.“ Dann muss sich der Lehrer die Zeit nehmen, mit der ganzen Klasse oder im Einzelgespräch den Unterschied zwischen dem Holocaust und der Gewalt zwischen Palästinensern und Israelis zu erklären, und dabei auch die Verantwortung der radikalen Palästinenser nicht unterschlagen. Wir müssen die Schüler in ihrer Empörung über ungerechte Verhältnisse ernst nehmen, aber die Argumentation in Frage stellen, wo es nötig ist.

Also alles ausdiskutieren?

Ja, aber es gibt auch Punkte, an denen wir die Diskussion abbrechen und sagen: so nicht. Wenn platte antijüdische Vorurteile provokativ wiederholt werden oder wenn die Jugendlichen etwa behaupten, dass Hitler es richtig gemacht habe mit der Verfolgung der Juden.

Hat denn die „Erziehung nach Auschwitz“, die seit mindestens einem Vierteljahrhundert den Geschichtsunterricht in Deutschland prägt, gar nichts gebracht?

Dass wir noch immer die Probleme haben, muss nicht heißen, dass die Programme sinnlos waren. Unterricht zum Holocaust kann Jugendliche für die Gefahren des Antisemitismus sensibilisieren, aber niemanden dagegen „immunisieren“. Nicht selten wird dieses Thema jedoch schräg inszeniert. Schüler wehren sich gegen einen moralisierenden Unterton ihrer Lehrer. Sie mögen es nicht, wenn das Thema nicht offen behandelt wird, wenn sie schon vorher wissen, was der Lehrer hören will.

Also doch eine Bankrotterklärung?

Nein, historisches Wissen über den Nationalsozialismus bleibt sehr wichtig, und auch Schüler von heute können aus der Geschichte lernen. Es gibt ja Gedenkstätten, die gute Workshops anbieten, wie das Haus der Wannseekonferenz in Berlin. Da können zum Beispiel Berufsschüler einen Workshop über die Verstrickung ihres Berufsstandes in den NS und die Judenverfolgung mitmachen. Sie haben die Chance, Geschichte als etwas wahrzunehmen, das sie persönlich interessiert. Täter, Opfer und Helfer – das ist auch auf Situationen übertragbar, die sie kennen. Warum schauten so viele zu? Aber die aktuellen Probleme von Rassismus und Diskriminierung kann man nicht mit Unterricht zum Holocaust lösen.

Was also können Lehrer da tun?

Leider ignorieren viele Pädagogen diese Probleme. Sie sagen: „Ich habe zwar viele Ausländer in der Klasse, aber für mich sind alle Menschen gleich.“ Sie müssen sich endlich in den aktuellen Debatten über Migration orientieren und die spezifischen sozialen Probleme ihrer Schüler wahrnehmen. Und sie müssen erkennen, dass Schüler in multikulturellen Schulklassen die Geschichte des Holocaust aus ganz unterschiedlichen Perspektiven wahrnehmen. Auf antisemitische Äußerungen adäquat reagieren kann nur ein Lehrer, der sich seiner selbst vergewissert hat: Wie bin ich selbst durch Eltern und Großeltern geprägt, woher kommt zum Beispiel meine Scheu, das Wort Jude auszusprechen?

Das Gespräch führte Amory Burchard.

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