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Gesundheit: Vergangenheitsbewältigung: Kalte Erinnerung, heiße Erinnerung

Ein Barockdichter reimte "Straf und Rache legt beiseit, liebet die Vergessenheit". Dass allein das Vergessen zu einem beständigen Frieden führt, davon gingen die Herrschenden im Abendland 2000 Jahre lang aus.

Ein Barockdichter reimte "Straf und Rache legt beiseit, liebet die Vergessenheit". Dass allein das Vergessen zu einem beständigen Frieden führt, davon gingen die Herrschenden im Abendland 2000 Jahre lang aus. Heute indes würde jeder westlich geprägte Politiker die Erinnerung als Königsweg zum Frieden empfehlen. Was für die große Politik galt, wirkte auch im Privaten: Während der vorchristliche Dichter Ovid das Vergessen als einziges Heilmittel gegen eine unglückliche Liebe preist, herrscht heute die Meinung, dass nur die schmerzhafte Seelenzergliederung zu wahrhaft neuem Glück führt.

Von Ovid trennen uns nicht nur unzählige Kriege, Friedensverträge und Staatsformen, sondern auch ein modernes Bild vom Menschen, dessen Identität auf der persönlichen Erinnerung fußt. Von Ovid trennt uns Sigmund Freud. Seit wir von dem Wiener Gelehrten wissen, dass nicht Aufgearbeitetes, bloß Verdrängtes uns zu einem späteren Zeitpunkt wieder heimsuchen kann, hat das Vergessen seine Unschuld verloren. Vielleicht kein Zufall, dass ausgerechnet in Wien eine hochkarätig besetzte Tagung nach den Gründen fragte für die obsessive Beschäftigung des 20. Jahrhunderts mit der Erinnerung. Einberufen wurde die Tagung "The Memory of the Century" vom Wiener Institut für die Wissenschaften vom Menschen.

In den letzten 25 Jahren hat beinahe jedes Land, jede soziale oder ethnische Gruppe einen tief greifenden Wandel in ihrem Verhältnis zur Vergangenheit erlebt. Die neue Sensibilität für die Mythen der Vergangenheit hat Archive und die Schleusen für eine Flut von Gedenkveranstaltungen geöffnet. Nicht nur für westliche Institutionen ist das historische Gedächtnis zu einer akuten Frage, zur Identitätsfrage geworden. Seit 1989 sind auch in Osteuropa die Debatten über den Umgang mit der Vergangenheit entbrannt, ebenso in Südafrika und Lateinamerika. Der französische Historiker Pierre Nora spricht vom "Zeitalter des Gedächtnisses".

Fetisch Vergangenheit

Nora sieht den Grund für die "Fetischisierung" der Vergangenheit darin, dass wir die Zukunft nicht mehr linear aus der Vergangenheit ableiten können. Der Glaube an die geschichtliche Teleologie ist verloren. Brüche lassen sich nicht mehr einordnen. "Da wir selbst uns nicht verstehen, geschweige denn wissen, was unsere Nachfahren einmal über uns wissen müssen, um ihr eigenes Leben zu verstehen", so Nora, "fühlen wir uns verpflichtet, jede sichtbare Spur zu archivieren."

Die "Demokratisierung" der Geschichte ist für Nora die zweite Ursache für die heutige Fixierung auf Vergangenes. Die offizielle Geschichtsschreibung ist durch eine Vielzahl von persönlichen Erinnerungen bisher vom Gedenken ausgeschlossener Gruppen korrigiert worden - zum Teil mit fatalen Folgen. Dort, wo die persönlichen Erinnerungen als zentrale identitätsstiftende Kategorie eines ganzen Kollektivs fungierten, gleichzeitig die Geschichtsschreibung als Korrektiv immer mehr fehle, könne die Erinnerung, wie in Jugoslawien, leicht zur Waffe werden. Nora war nicht der einzige, der deshalb an Nietzsches "unzeitgemäßen" Einwand erinnerte, dass ein Zuviel an Schlaflosigkeit und historischem Sinn das Lebendige vernichten könne. Was der Philosoph vor hundert Jahren gegen die positivistische Geschichtsschreibung richtete, müsse man heute auf die obsessive Erinnerungskultur beziehen.

Dass Erinnerung nicht zur Waffe werden muss, sondern auch ein erster Schritt zur Verständigung sein kann, belegte mit sehr berührenden Worten Alex Boraine, der der südafrikanischen Wahrheitskommission vorsaß. Die öffentlichen Anhörungen von 23 000 Opfern und 7000 Tätern des ehemaligen Apartheid-Regimes über einen Zeitraum von zweieinhalb Jahren hätten den Opfern ihre Würde und dadurch auch Kraft zur Stabilisierung des Friedens gegeben. Versöhnt sei man deshalb aber noch lange nicht.

Versöhnung ist für den englischen Historiker Timothy Garton Ash auch gar nicht erstrebenswert. Denn darunter versteht er, dass man sich auf eine einzige Version von der Vergangenheit einigen muss. Wünschenswert sei aber die andauernde Debatte. Mit einem ironischen Seitenhieb auf die Deutschen, die "Weltmeister im Export von Vergangenheitsbewältigung", rechnete er vor, dass es rund 2400 Möglichkeiten gebe, sich der Vergangenheit zu stellen - mit mindestens acht verschiedenen Zielen (Wahrheit, Gerechtigkeit) und zehn Arten der Aufarbeitung, von Wahrheitskommissionen bis zur symbolischen Entschuldigung. Global gültige Ratschläge lassen sich also kaum erteilen. Wichtig ist für Garton Ash die Balance zwischen Erinnern und Vergessen. Und dass eine klare Linie gezogen wird zwischen der Gegenwart und der Vergangenheit. Nicht wie ein "deutscher Schlussstrich" allerdings, sondern eher wie ein fertig gemaltes Bild.

Ein durch und durch schwarzes Bild allerdings malten Yuri Afanasiev und Richard Pipes vom gegenwärtigen Zustand Russlands. Rektor der Russischen Staatsuniversität für Geisteswissenschaften und Leiter des Staatsinstituts für Geschichte und Archive der eine, Harvard-Historiker und ehemaliger Berater Ronald Reagans in Osteuropafragen der andere. Russland habe sich bis heute nicht mit der kommunistischen Vergangenheit auseinandergesetzt. Obwohl die Archive geöffnet sind. Das Land versinke in Agonie. Die von Putin beförderte Wiederbelebung der "russischen Idee" reproduziere Mythen aus dem 19. Jahrhundert, so Afanasiev. Die Intellektuellen hätten ihre oppositionelle Rolle verloren und bisher keine neue gefunden. Debatten fänden in Moskau nicht statt.

Schließt die Archive!

Wohl aber in Polen. Die holte man sich stellvertretend mit Adam Michnik und Aleksandar Smolar auf die Wiener Bühne. Michnik ist gegen die Öffnung der Archive. Er befürchtet, dass sie die politische Instrumentalisierung der Vergangenheit befördert. Michnik ist stolz auf die letzten zwölf Jahre und verteidigte den pragmatischen Pakt zwischen ehemaligen Kommunisten und neuen Demokraten. Dem sei es zu verdanken, dass die Kommunisten in Polen im Gegensatz zu anderen osteuropäischen Ländern keine Gefahr für die Demokratie darstellten. Mehr als diese Koexistenz auf pragmatischer Ebene hält Smolar für ausgeschlossen. Die ideologischen Gräben seien zu tief.

Dass in postkommunistischen Ländern nach wie vor Kommunisten mitregieren, beweist für den amerikanischen Historiker Charles Meier, dass die kommunistischen Verbrechen im "kalten" Gedächtnis archiviert sind. Ihm stellt er das "heiße" kollektive Gedächtnis gegenüber, in dem der nationalsozialistischen Terror gespeichert sei. Trotz der Millionen von Toten, die der Stalinismus auf dem Gewissen hat, könnten Professoren immer noch Bilder von Marx und Engels, Lenin oder Mao in ihren Büros aufhängen. Aber keine von Hitler oder Himmler, auch nicht mit postmoderner Ironie. Grund dafür sei, dass der NS-Terror die menschliche Scham auf den Prüfstand stellt. Bis heute müssten sich auch die Nachgeborenen fragen, ob sie bei der Vernichtung, sei es auch nur durch Wegsehen, mitgeholfen hätten. Eine solche Seelenerforschung lege die kommunistische Vergangenheit potentiellen Kollaborateuren nicht auf, sagte Meier. Und entschuldigte sich für seinen Ausflug in psychologische Deutungsversuche. Vielleicht tat er aber gerade dadurch das, was der französische Philosoph Paul Ricoeur in seinem Eröffnungsvortrag von den Historikern eingefordert hatte: Sie sollten ihre Leser von der Melancholie, die um die Vergangenheit kreise ohne Schlüsse zu ziehen, zur Trauerarbeit führen. Denn sonst, und hier schwebte wieder Freud im Wiener Palais Ferstel, "begeben wir uns in einen Zyklus der memorativen Wiederholung, der die Erinnerung an Vergangenes verdeckt".

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