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Gesundheit: Von der Seele geschrieben

Wer Geschichten verfasst, wird mit seiner Krankheit besser fertig – und manchmal schneller gesund

„Wollen, oder vielmehr: können Sie sich das denn zumuten in Ihrer Lage?“, fragt der Frauenarzt. Seine junge Patientin ist schwanger, wie er gerade festgestellt hat. Doch sie ist auch chronisch krank. Sie hat Multiple Sklerose (MS). Der Gynäkologe rät zu einer Abtreibung. „Kein Platz für neue Bürden. Es ist besser so“, denkt auch die Schwangere – zunächst.

In einer Erzählung mit dem Titel „Mein, noch immer“ wird behutsam der Weg einer Frau nachgezeichnet, die sich schließlich doch anders entscheidet, für das Kind. Die Darmstädterin Petra Hechler hat für diesen kurzen Text den ersten Preis gewonnen.

Sie ist eine unbekannte Autorin. Die Auszeichnung erhielt sie beim Wettbewerb „Krankheitsbewältigung durch Schreiben“, den der Berliner Frieling-Verlag im letzten Sommer zusammen mit der Deutschen Multiple-Sklerose-Gesellschaft ausgeschrieben hatte. Erkrankte und ihre Angehörigen wurden aufgefordert, Gedichte, Kurzprosa oder Essays einzuschicken. 153 Autoren schickten Texte ein, 138 Kurzwerke begutachtete eine sechsköpfige Jury.

Fast jeder kennt einen Menschen, der an MS erkrankt ist. Denn das ist die häufigste Erkrankung des zentralen Nervensystems. Mehr als 120 000 Menschen leiden in Deutschland daran. Bei ihnen allen wird die Schutzhülle der Nervenbahnen, die Myelinschicht, angegriffen und teilweise zerstört.

Abgesehen von dieser Gemeinsamkeit hat die Krankheit jedoch ein ganz unterschiedliches Gesicht. Meist verläuft sie in Schüben, in denen Symptome von Taubheitsgefühlen bis zu Lähmungen auftreten. MS kann den Menschen ein Leben lang begleiten und schließlich in den Rollstuhl zwingen. Manchmal verschwindet die Krankheit aber genauso plötzlich, wie sie gekommen ist.

Ebenso unterschiedlich sind auch die sozialen und seelischen Auswirkungen des Leidens. Das kann man an den zwölf Geschichten, Gedichten und gedanklichen Texten ablesen, die als Auslese des Wettbewerbs jetzt unter dem Titel „Multiple Sklerose – Schock und Chance“ (Frieling Verlag 2006, 110 Seiten, 7 Euro, ISBN 3-8280-2333-9) erschienen sind.

Da hat ein Vater, den die Krücke jetzt am Fußballspielen hindert, Angst vor weiteren Behinderungen und Einschränkungen, doch sein Sohn zaubert ihn im Spiel wieder gesund. Da spricht die MS, der „Feind“, ernsthaft und vernünftig mit einer jungen Frau namens Anna, die ihre Krankheit nicht akzeptieren kann – und mahnt sie, doch lieber Frieden mit dem Unvermeidlichen zu schließen. Da fragt eine andere junge Frau, die gerade mit der Diagnose konfrontiert wurde, was sie nun mit ihren hochhackigen Schuhen machen solle und wie ein Rollstuhl zu ihrem bisherigen Leben passt, zu Disco,Caipirinha und Bauch-Beine-Po-Training.

Das sind spannende Geschichten, doch können sie auch zum Wohlbefinden ihrer Verfasser, vielleicht gar zu ihrer Genesung beitragen? In einer Studie, 1999 im Fachblatt „JAMA“ erschienen, konnte der US-Psychologe James Pennebaker beweisen, dass eine von ihm entwickelte Schreibtherapie nicht nur als wohltuend empfunden wurde – was ja schon ein Erfolg ist –, sondern auch Einfluss auf Immunsystem und Stresshormone nahm.

Der Psychologe untersuchte allerdings nicht MS-Kranke, sondern Rheuma- und Asthmapatienten. Ergebnis: Der Schweregrad der Rheumatoiden Arthritis nahm bei Verfassern von Erzählungen und Gedichten um durchschnittlich 28 Prozent ab, während in der Vergleichsgruppe, die sachliche Berichte abfassen sollte, keine nennenswerten Veränderungen erkennbar waren.

In den USA wird das Schreiben, aber auch das Lesen von literarischen Texten schon länger bei Menschen mit den verschiedensten psychischen und körperlichen Leiden eingesetzt. In Deutschland gibt es seit 1984 die Deutsche Gesellschaft für Poesie- und Bibliotherapie in Düsseldorf. Bei Poesietherapie wird das Schreiben, bei Bibliotherapie das Lesen von vorwiegend literarischen Texten therapeutisch genutzt. Vor allem Psychotherapeuten, aber auch Sprachtherapeuten und sogar Bibliothekare nutzen Angebote für Zusatzausbildungen.

Auch in der Freiburger Klinik für Tumorbiologie widmet sich die Sozialpädagogin Susanne Seuthe-Witz seit Jahren dem therapeutischen Lesen und Schreiben. Die Ergebnisse ihrer Arbeit mit Krebspatienten hat sie wissenschaftlich ausgewertet. Seuthe-Witz hat gute Erfahrungen damit gemacht, Patienten kurze Texte verfassen zu lassen.

In Gruppen- oder Einzeltherapie gibt sie Impulse zum Schreiben und versucht auch in Texten, die auf den ersten Blick nur negativ wirken, konstruktive, lebensbejahende Bilder zu erkennen, auf denen sich aufbauen lässt. „Schreiben kann hilfreich sein, wenn ein Dialog mit der Angst zustande kommt“, sagt Seuthe-Witz. „Es ist noch immer mein Leben, nicht das meiner Krankheit. Und es sind meine Lebensträume, meine Hoffnungen, Wünsche und Sehnsüchte, nicht die der MS“, das hat Preisträgerin Hechler nicht zuletzt im Prozess des Schreibens erfahren.

Adelheid Müller-Lissner

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