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Gesundheit: Von der Spätantike bis zu Woody Allen

Die Frage, was genau Judaistik ist, scheint fast so schwer zu beantworten, wie die, wer oder was ein Jude ist.Über die Auslegung des Letzteren streiten sich Juden in aller Welt jedenfalls seit Jahrhunderten.

Die Frage, was genau Judaistik ist, scheint fast so schwer zu beantworten, wie die, wer oder was ein Jude ist.Über die Auslegung des Letzteren streiten sich Juden in aller Welt jedenfalls seit Jahrhunderten.Historisch betrachtet ist Judaistik die bundesrepublikanische Nachfolgerin der "Wissenschaft des Judentums", wie sie Leopold Zunz im letzten Jahrhundert in Deutschland begründete."Das Studium umfaßt alle religiösen, historischen und kulturellen Ausprägungen des Judentums der letzten 3000 Jahre", stellt Klaus Herrmann, Studienberater des Judaistik-Instituts an der FU, den Lehrplan vor - theoretisch.Praktisch muß man sich etwas beschränken, und daher bilden "jüdische Religion und Geschichte" den Ausgangspunkt und Kern des Studiums.Aber, betont Herrmann, Judaistik sei keineswegs ein theologisches, sondern "ein geisteswissenschaftliches Studium wie zum Beispiel die Romanistik auch".

So heißt es im Grundstudium erst einmal, ein neues Alphabet lernen und hebräische Vokabeln und Grammatik pauken."Man muß die Sprache können, um die zentralen jüdischen Texte im Original lesen zu können," sagt Saskia Dönitz, die im siebten Semester in Dahlem studiert."Das ist der Schlüssel zur jüdischen Religion und Geschichte." Wer fleißig ist, kann bald die biblische Schöpfungsgeschichte und die restlichen fünf Bücher Mose - die hebräische Thora - entziffern.Ganz einfach ist das nicht, nicht zuletzt weil Hebräisch ohne Vokale geschrieben wird.

Die Sprache ist für viele eine große Hürde, aber für einige macht sie den besonderen Reiz des Studiums aus."Ein und derselbe Text ermöglicht ganz verschiedene Auslegungen", erklärt ihre Kommilitonin Evelyn Burkhardt eine der Ursachen für die sprichwörtliche jüdische Streitlust.Dabei gehe es allerdings nicht darum, Recht zu haben, betont sie, sondern um den Spaß am Argumentieren.Dies ist der Grund, warum die junge Frau sich für rabbinische Literatur aus der Spätantike begeistern kann, der man sich in Dahlem ausführlich widmet.

Ganz anders sehen das Stephanie Kowitz und Regina Elsner, die an der Uni Potsdam "Jüdische Studien" belegt haben."Ich interessiere mich mehr für das moderne Judentum, die Konzentration auf historische Schriften an der FU hat mich eher abgeschreckt", erklärt Stephanie Kowitz ihre Studienwahl.1994 wurde der interdisziplinäre Magisterstudiengang in Potsdam aus der Taufe gehoben, der sich konzeptionell wie strukturell von der seit den 60er Jahren bestehenden Dahlemer Judaistik unterscheidet.Auch hier ist die Religion und ihre Geschichte Grundlage des Studiums, aber "Judentum geht darüber weit hinaus", wie Professor Karl Grözinger betont, denn längst nicht alle Juden seien schließlich religiös.

Neben den Kernfächern Jüdische Religion und Philosophie bzw.Geschichte und Politik können auch Kurse über den Filmemacher Woody Allen, Tanz im Judentum oder die Politik im Nahen Osten an anderen Instituten belegt werden.In Dahlem sind solche Angebote nur vereinzelt zu finden, während die Interdisziplinarität in Potsdam Programm ist.Alle Kurse werden auch im Rahmen der beteiligten insgesamt zehn Studiengänge, zum Beispiel der Musik, Anglistik, Romanistik oder Psychologie, angeboten."So kommt keiner der Studierenden an der Uni an jüdischen Themen vorbei", freut sich Studienberater Joachim Schlör.Die Jüdischen Studien wollen die historische "Wissenschaft des Judentums" öffnen, und zwar "hin zu anderen Fächern und zur Gegenwart".

Der Name "Jüdische Studien" sei daher bewußt dem internationalen Gebrauch (Jewish Studies) angepaßt worden.Jüdische Studien sollten kein "Orchideenfach" sein, so Grözingers Überzeugung.Das "jüdische Thema soll vom Rand in den Mittelpunkt der Universität" gerückt werden.Man verstehe sich explizit politisch und wolle auch in aktuelle Debatten wie die um das Berliner Holocaust-Mahnmal eingreifen.

Die Konkurrenz der beiden Angebote ist für die Studierenden von Vorteil: Wer sich auf die Kernbereiche Religion und Religionsgeschichte mit Schwerpunkt Spätantike und Mittelalter konzentrieren möchte, geht nach Dahlem.Wen die deutsch-jüdische Geschichte und vor allem die Bezüge zur gesamten europäischen Geschichte bis in die Gegenwart stärker interessieren, wird wahrscheinlich eher Potsdam wählen.Thekla Bernecker aus Thüringen zum Beispiel wollte ursprünglich Israelwissenschaften an der Humboldt-Universität studieren, ein Fach, das noch aus der DDR-Zeit stammte und mittlerweile abgewickelt wurde.Jetzt absolviert sie das dritte Semester Jüdische Studien in Potsdam (Nebenfächer Geschichte und Literatur) und legt großen Wert auf den Spracherwerb.Der gehe in der Vielfalt des Angebotes schon manchmal unter, bemängelt sie.Sie spricht allerdings schon sehr gut Hebräisch, da sie bereits vor dem Studium ein Jahr in Israel mit Behinderten gearbeitet hat.

Das will Karl Grözinger, selbst ausgebildeter Judaist und in Potsdam verantwortlich für Religion und Religionsgeschichte, auch gar nicht bestreiten: "Die Sprachausbildung an der FU ist intensiver und geht mehr in die Tiefe als bei uns." Dafür sei das Themenspektrum in Potsdam wesentlich breiter, für ihn unabdingbare Voraussetzung, um "das Judentum als Gesamtphänomen" zu begreifen.Hinzu kommt, daß auch andere Sprachen wie Polnisch oder Russisch als Wahlpflichtfach anerkannt werden.In Dahlem dagegen liegt der Schwerpunkt auf den historischen Sprachen Aramäisch und Jiddisch.Entscheidend für ein wirklich gutes Hebräisch ist neben dem Talent sowieso ein längerer Studienaufenthalt in Israel, den beide Institutionen ihren Studierenden wärmstens ans Herz legen.Eine begrenzte Zahl von DAAD-Stipendien stehen pro Jahr dafür zur Verfügung.

Die Sprache ist faszinierend, Israel ein in jeder Hinsicht aufregendes Land, die Vielfalt "jüdischer Themen" prinzipiell unbegrenzt - aber was ist die zentrale Motivation, Jüdische Studien/Judaistik zu studieren? Ist es denn ein Fach wie jedes andere? "Das sicher nicht - kein Bulgarist oder Japanologe wird so oft nach der Motivation und Legitimation seines Tuns gefragt wie wir", meint Joachim Schlör nachdenklich.Ganz unberechtigt findet der Potsdamer Studienberater das nicht.Auch ihn beschleiche manchmal das ungute Gefühl, "Teil einer merkwürdigen Modebewegung" zu sein.Das starke Interesse an jüdischen Themen und Orten in der Öffentlichkeit - wie zuletzt bei der langen Nacht der Museen in Berlin, als das noch vollkommen leere Jüdische Museum gestürmt wurde - stehe in einem krassen Mißverhältnis dazu, daß die jüdische Kultur in Deutschland erst langsam wieder entstehe.

Die meisten Studierenden empfinden die Frage nach dem Warum als ein wenig lästig.Man merkt, daß sie ihnen schon sehr oft gestellt wurde."Nein, ich bin nicht jüdisch", sagt Evelyn Burkhardt von der FU geduldig und fügt gleich hinzu, "aber Germanistik können ja auch Nicht-Deutsche studieren!" Nein, mit dem Holocaust habe ihr Studium nichts zu tun.Sie habe sich bereits zu DDR-Zeiten für Jiddisch interessiert, das sei dort Ende der 80er Jahre in Mode gewesen und deswegen kam sie zur Judaistik.

Auch Stephanie Kowitz, die in Potsdam im Nebenfach Jüdische Studien belegt, ist froh, daß "es hier nicht nur um Holocaust und Antisemitismus geht, sondern mal ein anderer Blick aufs Judentum ermöglicht wird".Viele waren schon vor dem Studium in Israel, so wie Thekla Bernecker und Saskia Dönitz, die bereits in der Schule Hebräisch gelernt hat - neben Griechisch und Latein an einem altsprachlichen Gymnasium.Natürlich gibt es auch Studierende mit jüdischem Hintergrund, aber sie sind eindeutig in der Minderheit.

Studienberater Schlör vermutet dennoch, daß es gerade bei jungen Deutschen ein Bedürfnis gebe, sich nicht nur historisch mit dem Nationalsozialismus zu beschäftigen, sondern auch mit "dem, was dieser zerstören wollte, nämlich die jüdische Religion und Kultur".Das Bedürfnis der Auseinandersetzung mit der Vergangenheit halte er für völlig legitim und wichtig, aber andererseits sei dies ein Fach wie jedes andere, wo vor allem wissenschaftlich gearbeitet werde: "Wir feiern weder jüdische Feste wie Purim oder Chanukka, noch hören wir hier Klezmer-Musik!"

Boom-Fach Judaistik

Das Fach Judaistik hat an der Freien Universität in den vergangenen 15 Jahren einen regelrechten Boom erlebt.Interessierten sich Anfang der 80er Jahre nur knapp 50 Jung-Akademiker für Thora und Talmud, sind jetzt rund fünfmal so viele Studierende eingeschrieben (80 Prozent davon im Hauptfach).Der neue Studiengang "Jüdische Studien" in Potsdam lockte im Wintersemester 1994/95 nur 15 Neugierige an und wird heute von rund 110 Studierenden belegt.Das Fach ist, anders als in Dahlem, als interdisziplinärer Magisterstudiengang konzipiert und wird von der Uni Potsdam und dem Moses-Mendelssohn-Zentrum gemeinsam angeboten.An der FU kann man Judaistik ab dem kommenden Wintersemester auch als international anerkannten Bachelor-Studiengang (Dauer sechs Semester) belegen.Judaistik FU, Tel.: 838 2002 Jüdische Studien Potsdam, Tel.: 0331 - 977 1254

MARTINA KRETSCHMANN

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