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Gesundheit: „Was damals geschah, sträubt sich gegen das Vergessen“

Zehn Historiker antworten auf Fragen, die Deutschland 60 Jahre nach der Befreiung von der Herrschaft des Nationalsozialismus beschäftigen

Worüber streiten Historiker 60 Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs? Spontan antworten Historiker: Unter uns gibt es keinen Streit, es sind die Medien, die bestimmte Fragen hochspielen. Holocaust, Bombenkrieg, Vertreibung – welche Vergleiche sind legitim? War das Kriegsende eine Befreiung oder eine Niederlage? Opfer, Täter, Zeitzeugen, Archive – wen sollen wir befragen? Haben die Deutschen aus der Geschichte gelernt?

Aber wenn man diese Fragen trotzdem stellt, zeigt sich: Die Wissenschaftler haben sehr dezidierte Thesen zu den Kontroversen, die die Gesellschaft bewegen. Auf zehn Fragen haben wir oft unerwartete Antworten bekommen. Die meisten Historiker teilen den Konsens, der relativierende Vergleiche zu Recht ächtet, einige sehen aber durchaus die Möglichkeit zu fruchtbaren Vergleichen.

Wir haben mit deutschen Historikern verschiedener Generationen gesprochen, vom Emeritus, der unmittelbar nach dem Krieg studiert hat, bis hin zum Juniorprofessor. Wir haben auch mit Beteiligten des Historikerstreits von 1986 gesprochen: mit Hans-Ulrich Wehler, Heinrich August Winkler, Jürgen Kocka – auch mit Ernst Nolte, der sich damals mit seiner These vom kausalen Zusammenhang von Bolschewismus und Nationalsozialismus zum Außenseiter der Geschichtswissenschaft machte.

Wir haben diese Fragen in dem Wissen gestellt, dass die Antworten neue Kontroversen auslösen können. Aber wir wollen die ganze Breite der Ansichten, die es heute in der deutschen Gesellschaft gibt, deutlich machen. Es geht uns bei dieser Umfrage darum, das Nachdenken über die großen Themen der Zeit des Nationalsozialismus und des Weltkriegs möglichst umfassend zu dokumentieren – bis hinein in Tabuzonen.

Die Debatte auf dieser Seite zeigt: Von einer Normalisierung im Umgang mit der NS-Geschichte oder gar von einem Schlussstrich kann keine Rede sein. -ry

HOLOCAUST, BOMBENKRIEG, VERTREIBUNG – SIND VERGLEICHE LEGITIM?

Ein Vergleich von Holocaust, Bombenkrieg und Vertreibung wird immer missverstanden werden – als Gleichsetzung. Und in der Tat ist ein Begriff wie „Bombenholocaust“ absolut inakzeptabel. Dabei gibt es durchaus gemeinsame Elemente: Dem Holocaust fielen etwa sechs Millionen Juden zum Opfer, dem Bombenkrieg in Deutschland eine halbe Million Menschen, der Vertreibung über eine Million. Die tiefere Ursache für all diese Opfer waren die Herrschaft der Nationalsozialisten und ihre Entfesselung des Zweiten Weltkrieges. Für die vielen Millionen, die Verfolgung, Bombardements, Flucht und Vergewaltigung überlebt haben, waren diese Erfahrungen überaus prägend – in unterschiedlichem Maße. Die Leiden eines KZ-Häftlings sind gegenüber den Ängsten, die Berliner in Bombennächten durchlebten, unermesslich. Ein Vergleich wäre unangebracht. Ebenso werden die Traumatisierungen, die ein KZ-Überlebender erlitt, ungleich tiefer sein. Aber die Prägungen der betroffenen Individuen wirken oft über Generationen nach.

Die Methode des Vergleichs ist in der Geschichtswissenschaft ein Mittel, um Ähnlichkeiten, vor allem aber Unterschiede herauszuarbeiten. Ein Themenkomplex, für den Vergleiche in diesem Sinne fruchtbar sein könnten, wären die stalinistischen und die nationalsozialistischen Lagersysteme. Hier war es nicht sinnvoll zu fragen – wie es einst Ernst Nolte tat – ob die einen eine Folge der anderen waren. Wer aber fragen würde, welche Zielsetzungen die Diktaturen mit diesen Lagern verfolgten, welche Gruppen erfasst wurden, wie die Hierarchisierung aussah, könnte Kennzeichen beider Systeme noch präziser herausarbeiten, als es bisher geschehen ist. Notwendig und sinnvoll wäre auch ein Vergleich zwischen dem Bombenkrieg in Deutschland und in England. „Blitz“ und „V2“ beschäftigen die britische Gesellschaft bis heute stark.

WIE VIEL ERINNERUNG IST ZUMUTBAR?

Die Einsicht, dass der 8. Mai 1945 zumindest auch ein Tag der Befreiung war, konnte sich in der Öffentlichkeit erst spät durchsetzen. Eine Voraussetzung dafür war, dass die soziale und politische Struktur der alten Bundesrepublik so weit gefestigt war, dass der 8. Mai 1945 im Rückblick als das Tor zur Freiheit, als eine unverhoffte – und unverdiente – Chance zur Entwicklung einer liberalen und sozialen demokratischen Gesellschaftsordnung verstanden werden konnte. Eine andere, nicht weniger wichtige Voraussetzung bestand darin, dass der prinzipielle Verbrechenscharakter des NS-Systems nicht mehr verdrängt, sondern öffentlich anerkannt wurde.

Dabei geht es um historische Sachverhalte, die zutiefst irritierend sind und auch die Nachgeborenen belasten und schmerzen. Das umso mehr, als gleichzeitig immer deutlicher geworden ist, dass der Kreis der Täter nicht auf Hitler und seine unmittelbaren Gefolgsleute, nicht auf die Gestapo und die SS beschränkt werden kann. Die Erinnerung ist jedoch unverzichtbar – und deshalb auch zumutbar –, weil jeder, der in die Abgründe des NS-Systems geblickt hat, den Wert der Menschen- und Bürgerrechte, der Rechtsstaatlichkeit und einer liberalen Verfassung umso höher schätzen und für sie eintreten wird. Nicht zuletzt ist es unsere Pflicht, aller Opfer des nationalsozialistischen Terrors zu gedenken. Reinhard Rürup (Berlin)

STEHT DEUTSCHLAND AM SCHEIDEWEG – WIE IN DER WEIMARER REPUBLIK?

Aus vier Gründen kann man die beiden Situationen nicht vergleichen. Erstens war die Weimarer Republik ein ungeliebter Staat. Die Legitimationsbasis der Bundesrepublik aber ist noch belastbar. Zweitens ist Weimar unter dem Ansturm zweier extremer Flügelparteien zerbröselt, der NSDAP und der KPD. Drittens gab es in Weimar erst seit 1927 eine Arbeitslosenversicherung. Sie war auf 700000 Menschen ausgelegt und brach vier Jahre später unter dem Druck von acht Millionen Arbeitslosen zusammen. Das hat statistisch jede deutsche Familie betroffen und ist nicht vergleichbar mit der gegenwärtigen Lage, in der der Sozialstaat die Arbeitslosen erstaunlich gut versorgt. Viertens sind die Arbeitslosen in der Weimarer Republik nur von der KPD organisiert worden und – entgegen der Legende – nicht von der NSDAP. Heute fehlt eine linksradikale Alternative.

Das sind die Unterschiede. Das ändert aber nichts daran, dass eine Zahl von sechs Millionen Arbeitslosen nicht nur die Konjunkturschwäche verrät, sondern auch strukturelle Mängel. In den vergangenen 20 Jahren hat sich die Bundesrepublik im Gegensatz zu anderen europäischen Ländern unter der Bürde des Erfolgs vor schmerzhaften Reformen gedrückt. Die Führungseliten – die Gewerkschaften allemal – haben geglaubt, man könne das Wirtschaftswunder ewig verlängern. Dabei gab es schon 1973, mit der ersten Ölkrise, den strukturellen Bruch. Die Gefahr besteht darin, dass das politische System, das sich auf dem Erfolgspolster zu lange ausgeruht hat, an Glaubwürdigkeit verliert. Es breitet sich das Gefühl aus: Die reagieren nicht angemessen auf die Krise. Die Wähler ziehen sich zurück, sie wählen nicht mehr. Gleichzeitig werden im Bundestag aus Angst vor diesem Effekt keine Mehrheiten mehr gefunden, um notwendige Gesetze durchzusetzen, die etwa Präferenzen in der Bildungspolitik setzen oder Bundeszuschüsse für die Pflegeversicherung sichern – zu Lasten anderer Bereiche. Hans-Ulrich Wehler (Bielefeld)

WAS BRINGEN DIE VERGLEICHE ZWISCHEN DEM NS–REGIME UND DER DDR?

Als die Waffen im Mai 1945 endlich schwiegen, machten sich überlebende Hitler-Gegner daran, aus den Ruinen ein „besseres Deutschland“ aufzubauen. Einen radikalen Neubeginn mit Enteignungen des größeren Landbesitzes und Verstaatlichung der Industriebetriebe konnte die SED aber nur unter erheblichem Zwang durchsetzen. Sogar freundliche Beobachter wie der jüdische Romanist Victor Klemperer merkten an der hohlen Propagandasprache, dass sich daraus bald eine neue Diktatur entwickeln würde.

Im Kalten Krieg setzten Verfechter der Totalitarismustheorie die NS-Gewaltherrschaft mit der Diktatur des Proletariats gleich. Diese Theorie wurde weitgehend von Emigranten wie Hannah Arendt im amerikanischen Exil entwickelt. Sie hoben die gemeinsame Demokratiefeindlichkeit beider Systeme hervor: Sie waren zentralistisch geführt, hatten eine privilegierte Einheitspartei, einen brutalen Repressionsapparat, massive Propaganda, geplante Wirtschaft und damit strukturelle Ähnlichkeiten. Im Westen erleichterte die Totalitarismustheorie den Übergang vom Kampf gegen den Nationalsozialismus zum Anti-Kommunismus.

Erhellender als eine vereinfachende Gleichsetzung ist ein systematischer Vergleich, der gerade auch Unterschiede hervorheben kann. Zweifellos fanden sich in der DDR erhebliche Anklänge an Praktiken des Dritten Reichs. So ähnelte die FDJ als Zwangsstaatsjugend in manchen Aspekten der HJ. Aber wichtiger waren fundamentale Gegensätze: Trotz starker Militarisierung der Gesellschaft hat die SED keinen dritten Weltkrieg angezettelt. Auch bei aller inneren Gewaltanwendung ist die Zahl der Opfer um ein Vielfaches kleiner geblieben. Zwar gab es viel ideologische Verdummung, aber die sozialistische Weltanschauung bestand nicht aus einem menschenvernichtenden Rassismus, sondern blieb weitgehend dem Erbe der Aufklärung verhaftet.

Näher kommt man dem „realen Sozialismus“, wenn man ihn als fehlgeschlagenes Experiment zur Verwirklichung einer Utopie und als überzogenen Lernversuch aus dem NS-Trauma versteht. Konrad Jarausch (Potsdam)

HABEN DIE DEUTSCHEN AUS DER GESCHICHTE GELERNT?

Der Lernprozess, bezogen auf die Zeit des Nationalsozialismus, ist unabgeschlossen. Die Debatten um individuelle Schuld und Mitwirkung, um Täter und Opfer, um Gewaltherrschaft und Zustimmungsdiktatur werden sich fortsetzen. Gleichzeitig gibt es eine gewachsene Skepsis gegenüber nationalen Ideologien und Parolen. Das war bis in die 60er-Jahre anders.

Nach 1945 fiel es vielen Deutschen schwer, von der nationalen Ideenwelt Abschied zu nehmen, in der sie aufgewachsen waren. Damals troff Deutschlandpathos aus allen Poren der öffentlichen Rede, in der DDR wie in der Bundesrepublik, bei kulturellen wie bei politischen Themen. In den Nachkriegsgenerationen aber, für die Europa zu einem neuen Erfahrungsraum wurde, hat man die Lektion begriffen: Wer in Kategorien nationaler Ehre dachte, gab die Fähigkeit zur distanzierten Selbstbeobachtung ebenso auf wie die Möglichkeit, widerstreitende Interessen anzuerkennen und politische Kompromisse zu schließen. Das hätte man bereits aus dem Ersten Weltkrieg lernen können, aber dafür boten die innen- und außenpolitischen Konstellationen damals kein gutes Klima. Dieser gesellschaftliche Konsens blieb selbst nach 1989 veränderungsresistent. Der Slogan „Wir sind ein Volk“ glitt nicht in einen neuen Nationalismus hinüber. Antisemitische und xenophobische Übergriffe rufen heute massive Gegenwehr der Bürger hervor. Dass Vokabeln wie Nationalstolz oder Vaterlandsliebe weitgehend aus dem politischen Lexikon der Deutschen getilgt sind, ist kein Verlust. Diese Begriffe waren stets verknüpft mit Fremdenfeindlichkeit und Rassismus. Ute Frevert (Yale/Berlin)

WIRD DIE ERINNERUNG AN DEN ZWEITEN WELTKRIEG ZUM MEDIENZIRKUS?

Je länger 1945 zurückliegt, desto massiver wird die öffentliche Erinnerung an Weltkrieg und Shoa, Opfer und Täter, Zusammenbruch und Befreiung. Kein gnädiger Schleier des Vergessens breitet sich über die Schrecken jener Jahre. Die Zäsur von 1989 hat die Zäsur von 1945 nicht relativiert. Dieses Stück unserer Vergangenheit ist nach 60 Jahren überraschend präsent. Zweifellos, die Erinnerung ist extrem selektiv, sehr von den Medien gesteuert (und deshalb doch vom Veralten bedroht) und unterhaltsam.

Aber das Interesse an jenem katastrophalsten Jahrzehnt des vergangenen Jahrhunderts wird kräftiger, weil die Mechanismen bewusster Verdrängung mit dem Abtreten der unmittelbar Verantwortlichen an Wirkung verloren haben. Weil lange marginalisierte Tatbestände – die Deutschen als Opfer – erst seit kurzem in der breiten Öffentlichkeit gegenwärtig sind und die kollektive Erinnerung spannungsreich komplettieren. Erinnerung dient Gegenwartsinteressen von Opfern und ihren Nachfahren und wird auch deshalb immer neu belebt.

Was zwischen 1933 und 1945, vor allem 1941 bis 1945, geschah, ist von solcher historischer Wucht, exzeptioneller Schrecklichkeit und dramatischer Verdichtung, dass es sich gegen das Vergessen sträubt. Das Geschehene könnte wohl nur von ähnlich katastrophalen Geschehnissen in den Hintergrund gedrängt werden, die niemand herbeiwünschen wird.

Bei aller Internationalisierung der Erinnerung bleibt diese für Deutsche eine besondere Last und Verantwortung, schmerzlich und mühsam. Die mediale Massivität des Erinnerungsbetriebs stößt häufig ab. Der Kampf um den ersten Platz im Wettbewerb der Erinnerungen entbehrt nicht der merkwürdigen Züge. Trotzdem: Die Erinnerung an Opfer und Täter bei klarer Einsicht in historische Zusammenhänge, Verantwortung und Schuld ist nicht nur gerecht, sondern auch nützlich für die politische Kultur des Landes und seine Fähigkeit, aus der Geschichte zu lernen (was nicht immer misslingt). Übrigens auch für das Ansehen Deutschlands und seine internationale Position, wie der jüngste chinesisch japanische Konflikt erneut demonstriert, der sich an verweigerter Erinnerung entzündete. Trotz allen Rummels: Der Erinnerungsbetrieb bietet vor allem Chancen. Jürgen Kocka (Berlin)

GIBT ES IM GEEINTEN EUROPA EINE GETEILTE ERINNERUNG?

Die Europäische Union hat sich in den bisherigen Beitrittsverhandlungen um das Geschichtsverständnis der Bewerberländer nicht gekümmert. Sie tut es auch jetzt gegenüber der Türkei nicht, die den Völkermord an den Armeniern im Ersten Weltkrieg weiterhin hartnäckig leugnet. Dieses Desinteresse bei Kommission und nationalen Regierungen lässt sich nur aus jenem technokratisch verkürzten Politikverständnis erklären, das das immer wieder feierlich beschworene Ideal der Union als Wertegemeinschaft Lügen straft.

Die Krise des europäischen Einigungsprozesses ist aber auch eine Krise der europäischen Intellektuellen. Sie haben die Erweiterung ohne sonderliche Anteilnahme verfolgt. Die Vertiefung erfordert Arbeit an einem historisch und normativ begründeten Bewusstsein von europäischer Zusammengehörigkeit und Solidarität. Das ist die verbindende Lehre aus dem Jahrhundert der Weltkriege und des Kalten Krieges. Die acht ostmitteleuropäischen Staaten, die 2004 der EU beigetreten sind, haben einen Anspruch darauf, dass ihre Erinnerungen von den Westeuropäern nicht abgewehrt, sondern in das Projekt eines gemeinsamen europäischen Gedächtnisses aufgenommen werden.

Ohne das Bemühen um ein gewisses Maß an gemeinsamer Erinnerung wird ein europäisches „Wir-Gefühl“ nicht entstehen. Ein solches Gedächtnis bedarf der Orientierung an den westlichen Werten, die in Europa ihren historischen Ursprung haben. An ihrer Spitze steht die Idee der unveräußerlichen Menschenrechte. Eine Geschichtspolitik, die vermeintlichen nationalen Interessen einen höheren Rang zuerkennt als den allgemeinen Menschenrechten, verstößt gegen die westlichen Werte.

In Deutschland hat sich diese Einsicht endgültig wohl erst rund vier Jahrzehnte nach dem Untergang des „Dritten Reiches“, anlässlich des „Historikerstreits“ um die Einzigartigkeit des nationalsozialistischen Judenmordes, durchgesetzt. Bei manchen Neumitgliedern der EU, die während des Zweiten Weltkrieges Erfüllungsgehilfen des Holocaust gestellt haben, ist die Bereitschaft, sich zur eigenen Komplizenrolle zu bekennen, einstweilen nur schwach ausgeprägt. Europa muss darauf drängen, dass sich das ändert. Heinrich August Winkler (Berlin)

WARDAS KRIEGSENDE EINE BEFREIUNG ODER EINE NIEDERLAGE?

Heute kann der 8. Mai 1945 nichts anderes sein als der Tag der Befreiung der Deutschen – von der Gefolgschaft zu einem Regime, das im Frühjahr 1945 sogar die Selbstvernichtung angesteuert hatte. Jeder Tag, um den die unvermeidbare Kapitulation hinausgeschoben wurde, kostete Abertausende das Leben. Zeitgenössische Berichte zeigen aber, dass das Kriegsende damals nur von einer Minderheit als Befreiung wahrgenommen wurde. Hitler und das NS-Regime waren lange populär, noch Ende 1944 glaubten viele an den „Sieg“. Viele wussten aber auch um die Verbrechen, waren darin verstrickt oder als Täter beteiligt. Millionen Parteimitglieder rechneten damit, von den Siegern zur Verantwortung gezogen zu werden. Die Angst der Deutschen vor der Zukunft wurde geschürt von der Goebbelschen Propaganda.

Im Osten traf diese auf Resonanz – mit Hilfe der Roten Armee: Wegen des sowjetischen Rachefeldzuges kämpften Wehrmachtssoldaten oft verzweifelt weiter, während die Bevölkerung nach Westen flüchtete. Aus Sicht der Betroffenen, gerade auch der Frauen, die Opfer von Vergewaltigungen wurden, konnte von einer Befreiung keine Rede sein. Schließlich mussten die Ostdeutschen auch mit dem Verlust ihrer Heimat den „Preis“ für den im Osten seit 1939/1941 praktizierten NS-Vernichtungskrieg bezahlen. Im Westen wurde der Rückzug der Wehrmacht und die Besetzung durch die alliierten Truppen von der Bevölkerung mehrheitlich mit Erleichterung aufgenommen, bedeutete dies doch das Ende der Kämpfe und der Bombenangriffe.

Die Erfahrung von Besetzung, Flucht und Vertreibung, Kriegsgefangenschaft und Internierung, der Verlust von Familienmitgliedern, die Entbehrungen der Nachkriegszeit ließen für viele Deutsche die eigene Opferperspektive in den Vordergrund rücken. Dass 1945 in einem kausalen Zusammenhang mit 1933, 1939 und 1941 stand, wurde oft genug verdrängt. So war es letztlich auch eine Generationenfrage, dass der 8. Mai 1945 heute als Tag der Befreiung angesehen wird. Und nach dem, was wir heute über den Charakter des NS-Regimes wissen, hätte ein deutscher Sieg eine globale Katastrophe bedeutet – auch für die Deutschen.

Heinrich Schwendemann (Freiburg)

GIBT ES IM UMGANG MIT DER

NS–GESCHICHTE DENKVERBOTE?

Der Umgang mit der NS-Geschichte ist von Denk- und Sprechverboten beherrscht. Womöglich ist eine solche Haltung erforderlich, um einen Missbrauch durch Rechtsextremisten zu verhindern. Aber eine freiheitliche Demokratie sollte stark genug sein, um auch mit Extremisten argumentativ umzugehen. Politische Opportunität darf nicht höher gestellt werden als das Bemühen um wissenschaftlich begründete Wahrheit.

Historiker, die ihre Interpretation mit 1933 beginnen lassen, machen den Anfang auf halbem Wege. Weltgeschichtlich wichtiger war 1917, die gewaltsame Machtergreifung des Bolschewismus in Russland. Lenins Regime war eine sowohl enthusiastische wie Schrecken erregende Herausforderung für die unvollkommenen Demokratien Europas. Dass sich gegen diese umfassende Vernichtungsdrohung Parteien eines entschiedenen Widerstandswillens bildeten, war in höchstem Maße wahrscheinlich. Der deutsche Nationalsozialismus wollte allerdings dem Feind an Radikalität und umfassender Zielsetzung gleichkommen. Seine Vernichtungsmaßnahmen sollten am Ende noch gravierender sein. Aber während 1938 die Zahl der Todesopfer des Bolschewismus mehrere Millionen betrug, war ihre Zahl in Deutschland trotz aller harten Maßnahmen gegen „Marxisten“ und Juden vergleichsweise minimal. Noch 1940 lehnten Himmler und Heydrich Massenvernichtungen als „ungermanisch“ und „bolschewistisch“ ab.

Der Versuch einer „Endlösung der Judenfrage“ ist vom deutsch-sowjetischen Krieg nicht zu trennen. Kein Zweifel: Die jüdischen Opfer wurden von einer Schuldzuschreibung getroffen, die ungerecht war und in ihren Konsequenzen schrecklicher als jede der vorausgehenden Massenvernichtungen. Dennoch sollte die Frage als zulässig gelten, ob nicht der falschen Rede vom „jüdischen Bolschewismus“ ein Körnchen Wahrheit innewohnt. Den Juden als welthistorischem Volk wurde immer der „Messianismus“ als ein Hauptkennzeichen zugeschrieben. Diese Erwartung einer künftigen und besseren Welt hatte unübersehbare Ähnlichkeiten mit derjenigen des Bolschewismus. Wer den Juden die aktive Teilnahme an einigen großen Bewegungen der modernen Welt abspricht und sie insgesamt für „bloße Opfer“ erklärt, setzt sie in Wahrheit tief herab. Eine „epochale“ Interpretation wird auch ihnen in weit höherem Maße gerecht als die Auslegung des negativen Nationalismus mit ihren Denk- und Sprechverboten. Ernst Nolte (Berlin)

WASWIRD OHNE ZEITZEUGEN AUS DER ERINNERUNG?

Noch nie waren die Zeitzeugen des Nationalsozialismus so gefragt wie heute. Erst seit den 80er-Jahren steigt das Interesse an ihnen und gleichzeitig ihre Bereitschaft sich öffentlich zu äußern. Die Aufmerksamkeit für die Zeitzeugen jener Jahre verstärkt sich in dem Maße, wie sich ihre Reihen lichten.

Zeitzeugen bedienen das Bedürfnis nach historischer Konkretion. Sie geben dem Individuum eine Stimme. Diese Dimension hat die Geschichtswissenschaft zeitweise vernachlässigt, weil sie sich einseitig auf die große Politik und die gesellschaftlichen Strukturen konzentrierte. Allerdings sind die Erinnerungen von Zeitzeugen nicht unproblematisch. Denn in die Vergangenheit, die 60 oder 70 Jahre zurückliegt, kann sich auch der Zeitzeuge nicht voll zurückversetzen. Das seitdem Erlebte prägt das Bild mit. Zeitzeugenberichte brauchen deswegen ein geschichtswissenschaftliches Korrektiv.

Wir befinden wir uns heute außerdem an dem entscheidenden Übergang vom „kommunikativen“ zum „kollektiven“ Gedächtnis. Dieser Schritt wird mit dem Tod des letzten Zeitzeugen markiert. Allerdings können wir dank moderner Aufzeichnungstechniken die Erzählungen der Zeitzeugen multimedial konservieren und ihnen eine künstliche Gegenwärtigkeit verleihen.

Nach dem Ableben der Zeitzeugen stehen wir vor zwei Problemen: Zum einen besteht die Gefahr, dass das Gedenken an die NS-Zeit durch Ritualisierung erstarrt. Zum anderen verführen die neuartigen multimedialen Quellen dazu, unser Bild der Vergangenheit durch vorgetäuschte Authentizität zu manipulieren. Wir stehen vor der großen Aufgabe, neue und angemessene Formen zu finden für die Zeit nach den Zeitgenossen.

Klaus Kiran Patel (Berlin)

Gerhard A. Ritter (Berlin)

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