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Gesundheit: Was das Opfer nicht sah

Gegen den Hauptstrom der Holocaust-Forschung: Der Politologe Raul Hilberg wird mit dem Geschwister-Scholl-Preis ausgezeichnet

Er ist unbestritten ein ganz Großer der Holocaust-Forschung. Seine Bücher werden seit Jahrzehnten stets zu Standardwerken und erreichen hohe Auflagen. Aber Raul Hilberg bleibt bis heute umstritten. Am 2. Dezember wird dem aus Wien gebürtigen amerikanischen Politikwissenschaftler der mit 10 000 Euro dotierte Geschwister-Scholl- Preis des Verbandes Bayerischer Verlage und Buchhandlungen und der Stadt München verliehen. Spät wird dem heute 76-jährigen Autor so grundlegender Werke wie „Die Vernichtung der europäischen Juden“ (1982), „Täter, Opfer, Zuschauer“ (1992) und „Die Quellen des Holocaust“ (2002) eine solche Ehrung zuteil. „Schuld“ daran ist wohl Hilbergs Ansatz, die Judenvernichtung gegen den Hauptstrom der Holocaust-Forschung zu untersuchen.

Raul Hilberg, der 1939 im Alter von 13 Jahren mit seinen aus Galizien stammenden jüdischen Eltern über Frankreich und Kuba in die Vereinigten Staaten geflohen war, hatte früh erkannt, dass eine historisch gültige Beschreibung des Holocausts ohne die Akten der Täter nicht möglich war. „Das Opfer sah immer nur einen kleinen Bruchteil des Geschehens und konnte die Wirklichkeit des Ganzen, also das, was sich außerhalb seiner unmittelbaren Lebenssphäre abspielte, nicht wahrnehmen“, erläutert Hilberg.

Vor diesem Hintergrund bezeichnet es Hilberg als einen Glücksfall, dass ihm bereits während seines Studiums in New York 1948 die NS-Akten aus Nürnberg zugänglich wurden: „Ich erkannte sofort, dass ich mich bei meiner Arbeit auf diese und alle mir sonst erreichbaren NS-Akten stützen musste.“ Natürlich existieren auch auf jüdischer Seite Akten. Hilberg verweist auf die Bestände der „Reichsvereinigung der Juden in Deutschland“ oder des Ältestenrates der Juden in Warschau.

Doch würden diese von israelischen und auch von manchen amerikanischen Forschern nicht beachtet. „Ihr Aussagegehalt entspricht nicht dem, was diese Wissenschaftler der Nachwelt überliefern wollen“, begründet Hilberg das Verhalten der Forscher. „Diese Dokumente berichten nämlich nicht von jüdischen Heldentaten, sondern nur allzu häufig von vorauseilendem Gehorsam, Feigheit und Anpassung gegenüber den Nazis.“ Setzten sich überhaupt Forscher mit diesen Akten auseinander, dann erschienen ihre Werke nur in winzigen Auflagen. Auch von Hilbergs Büchern ist bis heute keines in hebräischer Sprache erschienen.

Ablehnung und Desinteresse

Doch nicht nur in Israel, sondern auch in Deutschland und sogar den Vereinigten Staaten, wo Hilberg von 1956 bis zu seiner Emeritierung 1991 an der University of Vermont den Lehrstuhl für Politische Wissenschaften innehatte, stieß er mit seiner Forschungsarbeit auf Ablehnung und Desinteresse. In Deutschland wollte man nach dem Krieg so schnell wie möglich vergessen, und die Vereinigten Staaten waren mit dem Kalten Krieg beschäftigt. Hilberg, der 1945 mit der US-Army in Deutschland war, erinnert sich, dass von amerikanischer Seite die Förderung des schnellen Vergessens schon unmittelbar nach der Niederlage 1945 begann: „Die USA waren sich damals im Klaren darüber, dass es zu einem Zusammenstoß mit der Sowjetunion kommen würde. So legten sie großen Wert darauf, die Hauptkriegsverbrecher möglichst schnell vor Gericht zu stellen und abzuurteilen, um Deutschland den Weg zur Wiedereingliederung in die Gemeinschaft der Völker zu ebnen.“

Der Kalte Krieg ist für Hilberg denn auch die Erklärung dafür, dass es so vielen an Naziverbrechen beteiligten Deutschen gelang, sich mühelos wieder im bürgerlichen Leben einzurichten. Selbst Wirtschafts- und Industrieführer, die in den Nürnberger Folgeprozessen wegen ihrer Tätigkeit im NS-Staat zu mehrjährigen Haftstrafen verurteilt worden waren, gelangten in ihre alten Stellungen zurück. „Wir kommen um die Feststellung nicht herum“, resümiert Hilberg, „dass mit diesen schwer belasteten Leuten das deutsche Wirtschaftswunder vollbracht wurde.“

Obwohl Hilberg, der 1994 unter dem Titel „Unerbetene Erinnerung. Der Weg eines Holocaust-Forschers“ seine Autobiografie vorlegte, sich selbst als Optimist bezeichnet, blickt er doch mit Bedrückung in die Zukunft. „Es fällt mir schwer zu erklären“, sagt er, „wie ein Präsident der USA – ich spreche von Clinton – der Eröffnung des Holocaust-Memorials in Washington beiwohnen und wenige Jahre später das Töten von einer halben Millionen von Tutsi übersehen konnte.“ Denn, so fragt er, „was heißt ,nie wieder’? Bezieht sich die Parole ,nie wieder’ nur auf Europa? Sind wir nur Zuschauer der in den anderen Teilen der Welt immer wieder verübten Massaker?“ Und so bleibt die für ihn wichtigste Frage die nach dem moralischen Fortschritt der Menschheit.

Raul Hilberg spricht am 4. Dezember um 20 Uhr im Berliner Gropius-Bau.

Adelbert Reif

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