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Gesundheit: Was ist würdiges Sterben?

Nachdenken über Ethik in der Altersmedizin

Der Jurist hatte in gesunden Tagen eine Verfügung verfasst: Sollte er eines Tages entscheidungsunfähig werden, solle auf sämtliche lebenserhaltenden Maßnahmen verzichtet werden, hieß es darin. Einige Jahre später bekam er Alzheimer und lebte schließlich in einem Pflegeheim. Sprachlich äußern konnte er sich nicht mehr. Als er eine Lungenentzündung bekam, entschieden sich Ärzte und Pfleger, ihn trotzdem mit Antibiotika zu behandeln. Sie setzten sich damit über die Verfügung hinweg, denn sie glaubten, dass der Heimbewohner sich heute für eine Behandlung entscheiden würde – denn er machte ganz den Eindruck, sein Leben zu genießen. Sein aktuelles Lebensgefühl schien anders, als er das in seiner Patientenverfügung vermutet hatte.

Diese Geschichte steht in einem Buch, in dem drei pensionierte Psychiatrieprofessoren Erfahrungen aus ihrem Berufsleben zusammengefasst haben. Thema: „Ethik in der Altersmedizin“ (Kohlhammer Urban 2006, 400 Seiten, 24 Euro).

Hanfried Helmchen, der früher die Psychiatrie am Klinikum Benjamin Franklin geleitet hat, Siegfried Kanowski, ehemaliger Leiter der dortigen Gerontopsychiatrie und der Münchner Hans Lauter, einst Leiter der Psychiatrischen Klinik der TU, stellen sich darin Fragen, die in einer alternden Gesellschaft immer dringlicher werden.

Wie rasant sich die Bevölkerungsstruktur in Deutschland ändert, zeigt sich am Beispiel der Menschen, die heute ihren hundertsten Geburtstag erleben: Im Jahr 1965 schrieb der Bundespräsident aus diesem Anlass 158 Glückwunschbriefe, 1998 waren es schon 2948 –, obwohl die Bevölkerung in diesem Zeitraum nur um gut zehn Prozent gewachsen war.

Wer sich angesichts solcher Zahlen über die „Überalterung“ der Gesellschaft beklagt, muss sich allerdings von den Psychiatrieprofessoren sagen lassen, dass der Wunsch, den demografischen Wandel rückgängig zu machen oder wenigstens zu stoppen, einer „Ablehnung zivilisatorischen Fortschritts“ gleichkäme. Es gebe keine Norm für eine „richtige“ Bevölkerungspyramide und die Menschen hätten den natürlichen Wunsch, lange zu leben. Alter allein ist deshalb in den Augen der Autoren „ein ungeeignetes Kriterium für die Beschränkung des Zugangs zu medizinischen Leistungen.“ Und das nicht nur, weil das kalendarische Alter nicht mit dem biologischen gleichzusetzen ist, sondern auch, weil solche Restriktionen einer Entsolidarisierung der Gesellschaft Tür und Tor öffnen könnten.

Trotzdem unterziehen sie die „Altersmedizin“ einer ethischen Betrachtung. Denn auch wenn „alt“ ein relativer Begriff ist: Alte Menschen sind häufiger krank als junge, haben häufiger mehrere Krankheiten gleichzeitig und erleben vielfältige körperliche Einschränkungen. Und sie sind dem Tod näher. Die Kehrseite des Fortschritts, der für die meisten von uns den Tod ins hohe Alter verschoben hat, ist, dass wir zunehmend den „langsamen Tod der siechen Alten“ erleben. Und der spielt sich häufig umgeben von Technik ab.

Was ist also „würdiges Sterben“? Auf keinen Fall eine Aufforderung an die Sterbenden, sich nach bestimmten Normen zu verhalten – demütig, still und ergeben, schreiben die Psychiater. „Würde kann auch in der standfesten Weigerung zum Ausdruck kommen, den bevorstehenden Tod zu akzeptieren.“ Der Begriff „würdiges Sterben“ enthalte vor allem eine Aufforderung an die Umgebung, den richtigen Rahmen zu schaffen, in dem ganz am Ende „das technische Drama gegenüber dem zentralen menschlichen Drama in den Hintergrund treten“ müsse.

Wer sich schon immer eine ordnende Hand wünschte, die sich des Wusts der Begriffe rund um das Thema „Sterbehilfe“ annimmt, wird sie in diesem Buch finden. Den Unterschied zwischen Sterbenlassen durch Abbruch lebensverlängernder Behandlung und aktiver Sterbehilfe machen die Autoren sehr einfach klar: An der Injektion eines Gifts würde auch der Gesunde sterben, der Abbruch der Behandlung hätte bei ihm aber keinerlei Auswirkung.

Mit der Geschichte des Juristen, der trotz seiner Verfügung behandelt wurde, zeigen die Autoren zwar, dass man im Einzelfall genau hinschauen muss, ob es nicht Anzeichen für einen Sinneswandel gibt. Doch insgesamt plädieren sie eindrücklich dafür, Patientenverfügungen ernst zu nehmen. Der Arzt dürfe „sein eigenes Fremdurteil nicht höher gewichten als die vorab festgelegte Überzeugung des Betroffenen.“ Und das nicht einmal dann, wenn der Patient sich einen Therapieverzicht bei einer Krankheit wünscht, die nicht direkt zum Tode führen würde. Weil das auch beim Wachkoma zutrifft, in das auch junge Menschen fallen können, gelten die Gedanken der Autoren nicht nur für die Altersmedizin.

Adelheid Müller-Lissner

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