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Gesundheit: Weihnachtsbaum im Winterschlaf

Die Weißtanne ist selten geworden, ihre Nadeln schmecken den Rehen – vom Klimawandel aber könnte sie profitieren

Rehe schätzen den deutschen Weihnachtsbaum: „Die Tanne ist die Schokolade für das Wild.“ Reinhard Mößmer von der Bayerischen Landesanstalt für Wald und Forstwirtschaft in Freising gönnt Rehen und Hirschen diesen Leckerbissen allerdings nicht so recht. Denn die Nadeln der Weißtanne Abies alba munden dem Schalenwild im Winter erheblich besser als Fichtennadeln. Sobald der Schnee den Rest der Vegetation zudeckt, sind die jungen Tannen mangels Alternative rasch kahl gefressen.

Seit in deutschen Forsten viel zu viele Rehe äsen, verschwindet mit der Tanne der klassische Weihnachtsbaum. Den gibt es in Deutschland schon erheblich länger als das Christentum: Schon die Germanen stellten zur Wintersonnenwende Weißtannen auf, weil diese als Sinnbild von Stärke und Hoffnung galten. Heute ist an ihre Stelle die aus dem Kaukasus stammende Nordmann-Tanne getreten. Die Weißtanne ist so selten geworden, dass sie als einzige Hauptbaumart einen Platz auf der roten Liste der gefährdeten Arten gefunden hat und zum „Baum des Jahres 2004“ gewählt wurde.

In den Alpen und Voralpen, im Schwarzwald und im Bayerischen Wald, in Franken, Thüringen und Sachsen war die Weißtanne noch vor 250 Jahren der Nadelbaum schlechthin. Weiter nach Norden war dieser Baum allerdings seit seiner Rückkehr aus seinen Rückzugsgebieten in Südeuropa nach der letzten Eiszeit nicht gekommen. In den Mischwäldern der Mittelgebirge Süd- und Ostdeutschlands dagegen war ursprünglich ungefähr jeder zehnte Baum eine Weißtanne. Heute stoßen die Förster allenfalls bei jedem fünfzigsten Stamm auf die weißlich-braune Rinde, die für Abies alba typisch ist. Einen dramatischen Rückgang verzeichnet der Frankenwald. Noch Mitte des 20. Jahrhunderts war dort fast jeder dritte Baum eine Weißtanne, 1987 lag der Anteil unter einem Prozent.

Für die Schutzgemeinschaft Deutscher Wald hat der frühere Forstdirektor von Bad Reichenhall, Georg Meister, die Gründe für diesen Rückgang zusammengestellt: Tannennadeln enthalten zum Beispiel deutlich mehr Stickstoff und Kalk als Fichtennadeln. Diese Stoffe aber sind für Rehe und Hirsche wichtige Bestandteile der Ernährung. Dagegen mag das Wild die in Fichtennadeln reichlich vorkommende Lignine, Kieselsäuren und Harze nicht so, weil diese Stoffe schwer verdaulich sind. Junge Weißtannen werden daher viel schneller kahl gefressen als junge Fichten.

Obendrein kommen Tannen mit Luftschadstoffen erheblich schlechter zurecht als Fichten. Schon im 19. Jahrhundert gingen daher im Erzgebirge die älteren Tannen in den Abluftfahnen der damals boomenden Industrie auf großen Flächen ein. Auch im letzten Drittel des 20. Jahrhunderts litt die Weißtanne besonders unter den Schwefeldioxid-Emissionen der Fabrikschornsteine.

Ein dritter Grund verschafft der Fichte immer wieder Vorteile: Wirft ein Sturm den Wald auf breiter Fläche um oder schlägt der Förster ganze Areale kahl, haben junge Tannen dort schlechte Chancen, weil sie strengen Frost nicht vertragen, den die Jungfichten aus ihrer nordischen Heimat gewöhnt sind. Keimt ein Tannensamen dagegen im geschlossenen Wald, hat die Jungtanne mit strengen Frösten erheblich weniger Probleme, weil es dort in kalten Winternächten ein paar Grad wärmer ist als über einer kahlen Fläche.

Während die jungen Bäume anderer Arten im Halbdunkel des dichten Waldes bald eingehen, weil sie zu wenig Licht erhalten, kommt die Weißtanne mit diesen Bedingungen gut zurecht. Statt nach oben dem Licht entgegenzuwachsen, breiten sich die Äste dann einfach horizontal aus und können so das wenige Licht auf breiterer Fläche einfangen.

Obendrein wachsen der Tanne jetzt Schattennadeln, die auch wenig Licht gut verwerten. Die Lebensfunktionen fährt der Baum in dieser Situation drastisch zurück, der Stamm wächst zum Beispiel kaum noch in die Breite. Ein ganzes Jahrhundert kann die Weißtanne in diesem „Winterschlaf“ auf ihre Chance warten.

Die bietet sich, wenn der Sturm einen der alten Bäume in der Nachbarschaft umreißt und plötzlich Licht durch ein Loch im Kronendach in die Tiefe fällt. Schattennadeln wandeln sich in Lichtnadeln, die Weißtanne wächst wieder in die Höhe und kann mit 65 Metern und einem Durchmesser von 380 Zentimetern in Brusthöhe zu einem der mächtigsten Bäume im deutschen Wald werden.

Genau solche Eigenschaften braucht ein Baum, wenn er im deutschen Mischwald der Zukunft wachsen soll, aus dem die Förster nur noch einzelne Stämme holen und auf Kahlschlag verzichten. Die Zukunft gehöre der Weißtanne, meint Georg Sperber, der bis vor wenigen Jahren das Staatsforstamt Ebrach im Steigerwald geleitet hat. Denn die Fichte kommt als Baum aus nördlichen Regionen mit dem wärmer werdenden Klima weniger gut zurecht als die Weißtanne.

Zudem verankert die Pfahlwurzel eine Weißtanne viel besser im Boden als die flachen Wurzeln der Fichte. Fährt ein Sturm in den Wald, stürzen viermal mehr Fichten als Weißtannen um. Stürme dürften mit dem Klimawandel aber häufiger werden. Wenn also das Schalenwild kurz gehalten wird, könnte die Weißtanne durchaus wieder eine Chance haben, als Weihnachtsbaum im Wohnzimmer zu landen.

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