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Gesundheit: Wenn harte Männer weinen

Der Gestalttherapie geht es um das Hier und Jetzt. Gefühle werden durch den Körper ausgedrückt

„Der Würfel hat schon viele Schläge abbekommen“, sagt Wolfram Eckert. Er deutet auf das weiße rechteckige Gebilde, das an einem Stuhl lehnt. Daneben weitere Stühle, ein paar schwarze Kissen. Ein kleiner Kegel aus braunem Holz, Bälle sowie ein paar puppenartige Figuren gehören ebenfalls zu den Requisiten des Berliner Gestalttherapeuten.

Die Regie obliegt allerdings dem Klienten. Er bestimmt den Inhalt des Stückes, das in dem Altbauzimmer aufgeführt wird. Stimmungen, Gefühle, Probleme lassen sich szenisch umsetzen. Der Therapeut stellt Fragen, gibt Anregungen, konfrontiert.

So war es auch, nachdem der Klient in die Praxis am Kaiserdamm gestürmt war: verspätet. Eine Verkettung zeitraubender Umstände hatte ihn aufgehalten. Er hatte zwar vorher angerufen, dennoch war er unsicher.

„Ziehen Sie die Schuhe aus“, sagt der Therapeut. Dann geht es ins Zimmer. Teppich auf Holzboden, zwei Sessel à la Ikea, dazwischen ein Couchtisch. Eckert nimmt einen Stuhl, stellt ihn vor den Klienten. Wen setzen Sie da jetzt hinein? Die Frage wirkt: der Stuhl ist leer und doch ist er besetzt. Mit der Frau, der Tochter, der Mutter. „Frauen spielen bei Ihnen eine große Rolle“, sagt Eckert, „da könnten wir genauer hinschauen.“

Er beobachtet, wie sich der Klient bewegt, wie er sich gibt. „Erlebnisorientiert“ sei die Gestalttherapie, man bewege sich „lebendig im Hier und Jetzt“. Das unterscheide sie von der Psychoanalyse, die sich hauptsächlich für das „Damals und Dort“ interessiere. Die Abgrenzung zur Verhaltenstherapie, die sich an gängigen Lebensmustern orientiere, sieht Eckert darin, dass die Gestalttherapie gesellschaftliche Normen durchaus in Frage stelle und ein „offenes Menschenbild“ habe.

Dies mag daran liegen, dass der Gründer, der 1893 in Berlin geborene, dann emigrierte Mediziner und Psychoanalytiker Fritz Perls, sich in der Arbeiterbewegung engagiert hatte. Vor gut 50 Jahren entwickelte er in den USA eine neue Therapieform aus einem Mix von Konzentrationsübungen und Elementen der Gestaltpsychologie.

Von letzterer stammt der Begriff der „Gestalt“, der sich nicht etwa auf Körperformen bezieht. „Gestalt ist eine Erlebniseinheit“, sagt Eckert. Ein Ausschnitt der Wirklichkeit, verzerrt wahrgenommen, wie es Menschen nicht anders möglich ist. Die Wahrnehmung ist geprägt von Bedürfnissen und nicht selten von Ängsten und Zwängen. Das kann belastend wirken.

Die Gestalttherapie bietet Methoden an. „Prägende Gestalten finden“ sagt Eckert. Das sagen, was man sich sonst nicht traut, und es „lebendig“ durch den Körper ausdrücken. Harte Männer können weich werden und weinen, traurige Frauen ihre Wut zeigen.

Ein weiteres Ziel: „Gestalten abschließen“, die man schon lange mit sich trägt. Den Mut finden, den der Vater einem nie zugetraut hat. Es kann auch sein, dass „Gestalten“ längst geschlossen sind, aber nichts taugen. „Wahrnehmungsmuster, die nicht funktionieren, wollen wir ändern“, sagt der Therapeut. Für ihn definiert sich Gestalttherapie als „Lebenshaltung“, als „praktizierte Philosophie“, die sich aus Elementen des Buddhismus und des Existenzialismus speise.

Jedem Menschen, davon ist Eckert überzeugt, ist die Kraft zur Selbstheilung mitgegeben. Man müsse nur die Steine, die im Weg sind, wegräumen. „Dann fließt es ganz von alleine.“ Es geht um „innere Wahrnehmung“, die Achtsamkeit für Gefühle und den Körper also, sowie Kontaktfähigkeit. Dafür gibt es Übungen. Mit den Kissen auf dem Boden beispielsweise eine ganze Gruppe aufzubauen. In Rollenspielen kann man belastende Situationen nachstellen und Beziehungen testen. Wenn es sein muss, kann man Trauer zeigen, Ärger rauslassen, Aggressionen abreagieren. Vielleicht bekommt der Schaumstoffwürfel dann wieder Schläge. Seine Gestalt hat darunter noch nicht gelitten, für den Klienten jedoch kann sich viel geändert haben: ein Konflikt wurde gelöst, Angst beseitigt, ein Weg gefunden.

Bei einer Stunde (Kosten 50 bis 70 Euro) pro Woche dauert die Therapie durchschnittlich ein bis zwei Jahre. Nur private Kassen zahlen.

Paul Janositz

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