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Gesundheit: Wie die Laute laufen lernten

Evolutionär: Viele Sprachen klingen verwandt – auch ohne gemeinsame Wurzel

Die Sprachexplosion bei Anderthalbjährigen ist faszinierend. Ein neues Wort pro Stunde eignen sich Kinder im Durchschnitt an. Wie aber erkennen sie später in den vielen verwirrenden Lauten die Regeln der Sprache, die Grammatik? Der Sprachtheoretiker Noam Chomsky stellte 1965 die These auf, dass Menschen mit einer Universalgrammatik auf die Welt kommen. Aus ihr und gehörten Sprechakten würden Kinder die Regeln ihrer Muttersprache erlernen. Juliette Blevins, Sprachwissenschaftlerin am Max-Planck-Institut für Evolutionäre Anthropologie in Leipzig widerspricht Chomsky. Seine Theorie weise zwei ernsthafte Mängel auf. Erstens gebe es keine Indizien für eine angeborene Grammatik. Zweitens sei die Theorie blind dafür, dass viele Lautmuster durch parallele Entwicklung entstanden.

Parallele Entwicklung – Juliette Blevins gibt gern zu, dass sie sich vom Evolutionstheoretiker Charles Darwin hat inspirieren lassen. „Die Bildung verschiedener Sprachen und unterschiedlicher Arten“, schrieb Darwin 1871, „verlaufen kurioserweise parallel“. In Sprachen gebe es wiederkehrende Formen, die auf gemeinsame Abstammung zurückgingen. Andere wiederkehrende Muster jedoch seien durch parallele Evolution aus verschiedenen Ursprüngen entstanden, sagt Blevins.

Bis auf den heutigen Tag fesselt parallele Evolution Biologen. Ein Paradebeispiel: die Augen der Tintenfische und der Wirbeltiere, die nicht voneinander abstammen, sondern sich parallel entwickelten. Oder die Körperformen der Fische und Wale, die sich auffällig ähneln. Doch Wale stammen von Land-Säugetieren ab. Sie haben die hydrodynamische Tropfenform parallel zu den Fischen entwickelt.

Die Idee, dass Sprachen Produkte einer Evolution von Lauten sind, kam in englischsprachigen Ländern auf und ist bei uns noch nicht verbreitet. „Evolutionäre Lautlehre“, sagt Blevins, die in den USA und Australien gelehrt und geforscht hat, „will die erstaunlich ähnlichen Lautmuster in nicht verwandten Sprachen mit paralleler Evolution erklären“.

So hat die Sprachevolution weltweit stimmlose Wortendungen hervorgebracht. Die Konsonanten p, t und k sind stimmlos, bei ihrer Artikulation vibriert die Stimmritze nicht. Ihre Gegenstücke sind b, d und g, die summen, wenn man sie ausspricht. In über 100 Sprachen, auch im Deutschen, werden b, d und g am Wortende wie p, t oder k ausgesprochen. Die Stimmhaftigkeit von b, d und g am Wortende, sagt Blevins, sei in den meisten Sprachen verschwunden, weil sie schwer zu erzeugen und schwer zu hören ist. „Stimmhafte Wortenden gingen verloren wie die Pigmente in der Haut von Höhlentieren.“

Aus nur 41 unterscheidbaren Lauten, in der Fachsprache Phoneme genannt, setzen sich alle in Deutsch gesprochenen Sätze und Reden zusammen. Evolutionäre Lautlehre untersucht die Geschichte der Laute. Zum Beispiel haben sich Umlaute aus Vokal, Konsonant und i gebildet. Aus Urgermanisch „footiz“ wurde „Füße“, weil beim Sprechen des o bereits das i anklingt. Ein ü taucht auf. Den Lautwechsel von Vokal, Konsonant und i zum Umlaut findet Blevins in so verschiedenen Sprachen wie Deutsch, Ozeanisch und einer australischen Sprache.

Für wiederkehrende Lautmuster hat Blevins fünf Gruppen von Faktoren gefunden. Eine Schublade heißt „physikalische Beschränkungen von Form und Funktion“, man könnte auch begrenztes Unterscheidungsvermögen sagen. Blevins erklärt: In fast allen Sprachen gibt es nur kurze und lange Vokale. In „bieten“ und „bitten“ spielt die Länge des Vokals die unterscheidende Rolle, wenngleich das lange i zudem geschlossener, das kurze i offener ausgesprochen wird. In nur wenigen Sprachen existieren neben kurzen und langen auch mittellange Vokale. Da Sprecher wie Hörer mittellange Vokale nicht sicher von kurzen und langen unterscheiden können, hat sich dieses Lautmuster nicht durchgesetzt und führt ein Nischendasein.

Nicht alle Lautmuster sind durch parallele Entwicklung entstanden. Manche gehen, ähnlich wie Organe bei Tieren, auf einen gemeinsamen Ursprung zurück. So gibt es im Deutschen und Englischen viele Wörter, die mit st beginnen wie Stamm, stem, Staat oder state, weil beide Sprachen von Urgermanisch abstammen. Andere Sprachen, andere Lautmuster: In nicht mit Urgermanisch verwandten Sprachen wie Chinesisch oder Hawaiisch beginnt kein Wort mit st.

Viele Laute, hat Blevins festgestellt, werden beim alltäglichen Sprechen variiert oder kommen beim Hörer anders an. Sprachen sind aus dem kontinuierlichen Wechselspiel zwischen Sprechern und Hörern entstanden. Das Wechselspiel findet nicht im leeren Raum statt, sondern unter strengen physikalischen Bedingungen von Stimmapparat und Lauteproduktion sowie Gehör und Wahrnehmung.

Etwas ganz anderes sei das Wechselspiel zwischen Kindern und Eltern. Wenn das Baby erstmals Mama, immâ (Hebräisch), âmâ (Nepali) oder ana (Kasachisch) sagt, sei dies trotz der universal anmutenden Lautfolge kein Beispiel für Evolutionäre Phonologie. Vielmehr reagierten Eltern ähnlich auf die ersten Laute der Babys – und das sind m, b, p und der Vokal a. Eltern neigten dazu, daraus Wörter zu bilden, die die Kinder alsbald nachsprechen könnten, sagt Blevins.

Juliette Blevins, Evolutionary Phonology. The Emergence of Sound Patterns, Cambridge University Press, 2004.

Peter Düweke

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