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Gesundheit: Wir haben keine Zeit zu verlieren Die Universitäten müssen sich endlich den Aufgaben der Zukunft stellen /

Von Dieter Lenzen Foto: Thilo Rückeis

Die Zukunft einer Universität ist angewiesen auf Utopien statt defätistischer Betrachtungen des Niedergangs. Allerdings kann ich mich nicht erinnern, eine Phase erlebt zu haben, die so durch ein kollektives Lebensgefühl der Unsicherheit gekennzeichnet ist und dabei gleichzeitig von einer Massenamnesie begleitet zu sein scheint wie diese. Die großen Transformationsereignisse von der so genannten Wende bis zu maßlosen Millenniumsfeiern haben bei breiten Kreisen der Bevölkerung einen Suff der Gegenwärtlichkeit hinterlassen, der nicht einmal Platz für eine Zukunftssorge auf mittlerem Niveau lässt. Diese Indifferenz hat fatale Folgen für eine Reihe gesellschaftlicher Systeme: an erster Stelle für die Wissenschaft.

Als neuzeitliche Wissenschaft in den Raum des Sakralen eindrang, veränderte sie das Verhältnis der Menschen zur Zukunft fundamental. An die Stelle der Zukunftserwartung trat die Idee der Zukunftsgestaltung. Grundlage war der Wunsch, Prognose an die Stelle von Ahnung, Gewissheit an die Stelle von Zukunftsangst und den Willen zur Macht über das eigene Leben an die Stelle der Ohnmacht des Schicksals zu stellen. Dieses alles ist angewiesen auf Wissen und Wissenschaft.

Wo aber steht Wissenschaft heute, wo stehen Wissenschaftspolitik und Wissenschaftsfinanzierung, insbesondere in Berlin? Sie sind konfrontiert mit Planungschaos, Selbstbetrug und dem Egoismus der ewig Heutigen. Seit etlichen Monaten wird die Berliner Öffentlichkeit mit Zahlensalven beschossen – offenbar von jemandem, der nicht weiß, dass 600 Millionen Euro zweieinhalb Universitäten sind und noch 200 Millionen Euro immerhin eine ganze. Oder wusste er es doch?

Den drei Universitätspräsidenten ist es inzwischen gelungen, die maßlosen Erwartungen des Finanzsenators zurückzudrängen. So sind daraus nun 75 Millionen zusammen für alle Hochschulen und nicht nur für die Universitäten geworden, die von 2004 bis zum Jahre 2009 zu erbringen sind. Das ist ein kleiner Erfolg für die Vernunft. Dennoch: Auch dieser Schnitt beraubt die Stadt eines Stücks ihrer Möglichkeiten. So wäre es Selbstbetrug, den Bürgern zu suggerieren, ihre Kinder und Enkelkinder hätten noch dieselben Chancen auf einen Studienplatz in ihrer Heimat wie zuvor. Es wäre ein Selbstbetrug zu behaupten, mit erhöhten Lehrverpflichtungen, schlechteren Ausstattungen und nicht konkurrenzfähiger Bezahlung könnte man die gleichen hervorragenden Wissenschaftler nach Berlin locken wie zuvor. Es ist ein Selbstbetrug zu glauben, dass die Arbeits und Leistungsmotivation in den Universitäten dieselbe bliebe, wenn das Planungschaos zum Normalfall wird.

Es darf niemanden wundern, wenn der Egoismus der Gegenwärtler irgendwann auch vor den Universitäten und Hochschulen nicht Halt machen wird. Die harmloseste Ausprägung werden innere Kündigung und Mentalreservation sein.

Was ist zu tun?

Wir müssen das Planungschaos abwenden, indem wir uns den Bedingungen stellen, unter denen unsere Universität künftig existieren wird. Zwischen 2010 und 2020 wird der Globalisierungsdruck weiter zunehmen. In der Forschung werden die Länder Vorteile haben, die heute massiv in Forschung investieren und die juristische Restriktionen für die Forschungsfreiheit minimieren. Wissenschaft in Deutschland wird diesen Vorsprung der anderen nur durch Kreativität und höhere Arbeitsbelastung kompensieren können. Sind wir dazu fähig?

Die größte nationale Herausforderung ist die demographische Entwicklung. Bis 2020 wird die Zahl der Geburten so weit zurückgegangen sein, die Lebenserwartung so weit gestiegen, dass rund dreißig Prozent der Bevölkerung die übrigen siebzig Prozent versorgen müssen. Das ist nicht möglich. Also werden ältere Menschen in vielen Fällen bis zu ihrem Lebensende arbeiten, soweit es etwas für sie zu tun gibt. Damit es etwas für sie zu tun gibt, müssen sie so weitergebildet werden, dass ihre Kompetenz erhalten bleibt.

Das heißt: Auf die Universitäten kommt eine einzigartige Herausforderung zu: Mehr als fünfzig Prozent eines neuen Altersjahrgangs zum Hochschulabschluss zu führen, um den Status quo zu halten und weitere dreißig Prozent der gesamten Bevölkerung durch Weiterbildungsmaßnahmen die Erwerbs- und Beschäftigungsfähigkeit in akademischen Berufen zu erhalten.

Es hat noch niemand ausgerechnet, was das kostet, wie viele Studienplätze man dafür benötigt und wer das bezahlen soll. Sicher ist: Es wird massivste soziale Auseinandersetzungen um diese Frage geben, und zwar nicht zwischen den sozialen Schichten, sondern zwischen den Generationen.

Regional ist die größte Herausforderung an die Wissenschaft die Tatsache, dass Berlin und Brandenburg keine Industriestandorte sind und es auch nicht wieder werden. Dieses bedeutet, dass die Region sich auf ihre wenigen Wachstumsfelder konzentrieren muss. Dieses sind Medien, Biotechnologie, Elektronik, Verkehrstechnik und Tourismus. Hinzu könnten treten Umwelttechnik, Medizintechnik, Multimedia- und Informationstechnologie sowie Pharmazie, Ernährung und Umweltschutz.

Eine besondere Rolle wird, nicht nur im Rahmen des Tourismus, der Kultur zukommen. Sie durchzieht Tourismus, Medien, Multimedia, Informationstechnologie und andere Bereiche wie ein roter Faden, der dick genug sein muss, um das alles zusammenzuhalten, was ohne sinnhafte Orientierungen konzeptionslos auseinanderstrebt.

Wahrhaftige Wissenschaft

Universitär, und das ist die wichtigste Aufgabe für die nächsten vier Jahre, wird es darauf ankommen, die Stärken unserer Universität in diesen Feldern im Hinblick auf die unterschiedlichen Herausforderungen zu identifizieren und Schwerpunkte, auch in Abstimmung mit den anderen Universitäten, zu identifizieren, die die Kompetenz-Cluster der Freien Universität Berlin sein werden.

Noch nie ist eine Universität dazu genötigt gewesen, sich selbst nicht nur aus der Logik ihrer Disziplinen und deren Geschichte zu begründen, sondern auch vor dem Hintergrund gesellschaftlicher Erwartungen. Aber genau das ist die Pflicht von Wissenschaft: Für Gesellschaft da zu sein, aber nicht in gefälliger Art, sondern so, wie es das Wahrhaftigkeitsgebot von Wissenschaft verlangt. Die Arbeit an der Identifikation möglicher Cluster im Sinne einer Stärkenanalyse der Universität hat bereits begonnen. Wir haben keine Zeit zu verlieren.

Der Autor ist seit Juni 2003 Präsident der Freien Universität Berlin.

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