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Gesundheit: „Wir haben uns Utopien abgeschminkt“

Soziales Engagement statt Revolte: Historiker Paul Nolte fordert einen Mentalitätswandel

Herr Nolte, wir hatten bis vor kurzem einen Medienkanzler. Sind Sie der deutsche Medienprofessor?

Ganz bestimmt nicht der Medienprofessor. Sondern einer von vielen Professoren, die sich auch öffentlich äußern.

Aber Sie sind in den Medien besonders präsent. Warum?

Womöglich weil ich in dem, was ich schreibe, Grenzen überschreite. Wir sind in einer Situation, wo sich Intellektuelle zu Wort melden, weil die Krise, in der wir uns befinden, nicht mehr nur politisch bewältigt werden kann.

Die Frankfurter Allgemeine Zeitung hat Ihnen jetzt anlässlich Ihrer Antrittsvorlesung an der Freien Universität Berlin wissenschaftliche Substanzlosigkeit vorgeworfen.

Das ist schlicht falsch. Es gibt Phasen, wo sich ein Wissenschaftler auf bestimmte Probleme besonders konzentriert und auf andere vielleicht weniger. Das gefährdet aber nicht seine Substanz.

Aber Sie genießen es, von der Öffentlichkeit wahrgenommen zu werden?

Nein, ich finde es eher anstrengend. Ich genieße es, wenn ich mit Kollegen an Problemen arbeiten kann.

Ihr neues Buch heißt „Riskante Moderne“. Was ist denn an der Moderne so riskant?

Sie ist auf jeden Fall riskanter, als wir lange Zeit dachten. Wir müssen in Europa Gott sei dank nicht mehr Hunger leiden, auch keine Kriege führen. Aber unsere Gesellschaft ist nur scheinbar befriedet. Es gibt neue Risiken, vor allem in der privaten Lebensführung.

Die Risiken sind nur noch privat?

Nein, nicht ausschließlich. Aber sie sind heute vorrangiger als die öffentlichen.

Die Deutschen fühlen sich unglücklich, obwohl es ihnen materiell gut geht. Warum?

Weil wir uns schwer auf Veränderungen einstellen, beispielsweise im Sozialstaat. Wir können uns anscheinend schwer daran gewöhnen, dass es nicht ewig so weitergehen kann. Wir brauchen ein neues Ideal vom guten Leben, in dem Wohlstand einen geringeren Stellenwert hat als jetzt.

Wirkt nicht gerade der Wohlstand eher negativ auf die Freiheit, weil die Menschen nicht mehr um sie kämpfen müssen?

Nicht unbedingt. Das sieht man in den USA. Da gibt es viel größere soziale Unterschiede als bei uns. Aber die Amerikaner sind optimistisch, weil sie Risiken als Chancen begreifen und wertebewusst sind.

Wir haben ein Mentalitätsproblem?

Ja. Ich wehre mich dagegen, unsere Probleme nur technisch wahrzunehmen. Es reicht nicht aus, einfach nur über das schwache Wirtschaftswachstum zu lamentieren.

Sie sind Kulturkritiker?

Na ja, der Begriff Kulturkritik hat für mich einen zu pessimistischen Geschmack. Ich bin Gesellschaftskritiker.

Ja, aber zu jeder Kritik gehört ein Gegenkonzept. Haben Sie eines?

Unsere Mentalität muss sich ändern – radikal. In Richtung einer „Investiven Gesellschaft“. Wir dürfen nicht mehr nur fragen, was wir ökonomisch investieren können, sondern wie wir unser eigenes Leben verantwortungsvoll gestalten. Verantwortung ist zuerst Selbstverantwortung. Ein sinnvolles Leben ist eines, das ich frei und unabhängig gestalte, aber in Mitverantwortung für andere.

Sie haben sich gleichermaßen vom Marxismus wie von der Kulturkritik abgewandt. Sind Sie intellektuell standortlos?

Nein! Wir leben nicht mehr in einer Welt, wo man sagen kann: „Jawohl, ich bin Marxist“ oder „Ich bin Konservativer.“

Utopien sind für Sie gegenstandslos?

Nein. Wir haben uns die Suche nach Utopien abgeschminkt, weil wir mit ihnen schlechte Erfahrungen gemacht haben.

Aber Sie wollen wieder Utopien?

Keine Großutopie. Eine Utopie der „mittleren Reichweite“.

Das klingt sehr zurückhaltend. Wie soll diese Utopie aussehen?

Die Menschen müssen nicht mehr auf die Barrikaden gehen. Aber vielleicht ehrenamtlich im Krankenhaus helfen. Die Probleme liegen vor den Augen, etwa Kinderverwahrlosung. Wenn das so weitergeht, sehe ich schwarz.

In Deutschland gibt es zu wenig Öffentlichkeit und zu viel Privatheit?

Ja! Wir haben die Privatheit bis zum Exzess kultiviert. Ich kritisiere den Rückzug auf die Privatheit. Das fing schon in meiner Generation an, etwa damit, dass man sich kaum mehr über Politik unterhielt. Die Grenze vom Privaten zum Öffentlichen muss wieder überschritten werden.

Sie sprechen vom „Siegeszug der Privatheit“. Das haben auch Hannah Arendt und Jürgen Habermas getan. Was fordern Sie? Aufhören, Unterschichtenfernsehen zu gucken?

Na ja, Unterhaltung ist ja an sich nichts Schlimmes. Aber dass die Menschen sich mehr bilden und weniger ablenken, würde ich ihnen schon raten.

Dass sie geschichtsbewusster werden?

Geschichte ist so präsent wie noch nie zuvor. Das ist gut, weil erst Geschichtsbewusstsein einen kritischen Zugang zur Gegenwart erschließt.

Der „Clash of Civilizations“ steht vor der Tür. Wie soll sich der Westen gegen den islamischen Fundamentalismus wehren?

Indem er seine Werte selbst wieder ernst nimmt: Toleranz, Demokratie, Freiheit. Das sind universelle Werte.

Jene des Islam nicht?

Auch der Islam hat einen Freiheitsbegriff. Aber der Westen muss den Mut haben zu sagen: „Wir glauben, dass unser Freiheitskonzept eurem überlegen ist.“ Wir müssen zu unserer Gesellschaft halten, auch wenn man sie vielfältig kritisieren kann.

Ist das nicht ein Paradox?

Ja, aber es gibt keine Alternative. Wir müssen uns an die kleinen Probleme halten und an ihnen weiterarbeiten, aber wir dürfen nicht auf leichtfertige Heilsversprechen hereinfallen.

Halten Sie die fanatischen Reaktionen im Nahen Osten auf die antiislamischen Karikaturen in europäischen Zeitungen für gerechtfertigt?

Nein! Ich verstehe, dass sich die Muslime getroffen fühlen. Aber ich bin der Meinung, solche Karikaturen sollen trotzdem gedruckt werden dürfen. Jetzt erst recht. Wir sollten uns nicht durch diesen Fanatismus einschüchtern lassen.

Sollen die Deutschen religiöser werden?

Religion lässt sich nicht oktroyieren. Aber sie sollte wieder mehr Bedeutung erlangen, nicht zuletzt, weil sie die Fähigkeit zur Selbstreflexion stärkt. Und die haben wir nötig.

Das Gespräch führte Konstantin J. Sakkas.

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