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Gesundheit: Wohin Gen wir?: Folgenschwere Schreibfehler im Buch des Lebens - Krebs ist die Folge stufenweiser Veränderungen des Erbguts

Das Versprechen, eines Tages Krebs heilen zu können, gehört zu den stärksten Argumenten der Genforschung. Denn trotz vieler Fortschritte in der Behandlung verbreitet diese Krankheit noch immer Angst und Schrecken.

Das Versprechen, eines Tages Krebs heilen zu können, gehört zu den stärksten Argumenten der Genforschung. Denn trotz vieler Fortschritte in der Behandlung verbreitet diese Krankheit noch immer Angst und Schrecken. Jeder dritte Bundesbürger erkrankt, jeder vierte stirbt an einem Tumorleiden. Zwar wird dabei oft außer acht gelassen, dass Krebs in den meisten Fällen ein Altersleiden ist. Aber die Hoffnung auf Heilung oder auf Linderung dieses Leidens verleiht der Forschung Flügel. Wohl keine andere Krankheit ist in ihren Grundlagen so gut untersucht worden wie Krebs. Und es zeichnen sich erste Erfolge bei dem Versuch ab, dass im Labor gewonnene Wissen über die Ursachen von Krebs in neuartige Therapien umzumünzen.

Als Krebs bezeichnet die Medizin das autonome, ungesteuerte und zerstörerische Wachstum von körpereigenem Gewebe. Mittlerweile hat sich weitgehend die These von der "klonalen" Krebsentstehung durchgesetzt. Sie besagt, dass die Milliarden von wuchernden Zellen, aus denen ein Tumor besteht, einer einzigen Ursprungszelle entstammen, die sich wieder und wieder geteilt und damit selbst verdoppelt hat - also sich fortwährend auf Kosten des gesamten Organismus "klont".

Normalerweise wird eine solche Form von biologischer Anarchie im Körper durch ein ganzes System von Kontrollmaßnahmen unterdrückt. Gesunde Zellen teilen sich nur dann, wenn es der Organismus erfordert, und schon gar nicht schlagen sie derart über die Stränge wie eine Krebszelle. Diese überwindet natürliche Barrieren und wächst auch dort, wo sie normalerweise gar nichts zu suchen hat.

Als eigentliche Ursache für das bösartige Wachstum gelten heute Veränderungen in den Erbanlagen der Geschwulstzelle, Mutationen genannt: Krebs ist eine genetische Krankheit. Was wiederum in den allermeisten Fällen nicht heißt, dass das Leiden vererbt wird. Denn man nimmt an, dass im Laufe des Lebens erworbene Gen-Schäden - etwa durch Strahlen oder chemische Prozesse in der Zelle - schließlich dazu führen, dass eine Zelle "ausrastet" und zum Ursprung von Krebs wird.

Krebs ist Unsterblichkeit am falschen Platz - nämlich in einem vielzelligen Organismus, für den Arbeitsteilung und Selbstbeschränkung seiner Organe lebensnotwendig sind. Für den amerikanischen Biologen Robert Weinberg vom Massachusetts Institute of Technology sind Tumoren nun einmal das Risiko, dass Organismen mit Billionen von Zellen eingehen müssen. Denn vor jeder Zellteilung muss das gesamte Erbgut, bestehend aus drei Milliarden biochemischen Buchstaben ohne Punkt und Komma, verdoppelt, also vollständig abgeschrieben werden. Da kommen Schreibfehler fast unweigerlich vor. Oder, anders herum ausgedrückt: es ist verwunderlich, dass nicht mehr passiert.

Bislang haben die Forscher an die 100 "Krebs-Gene" gefunden. Eine wichtige Gruppe von Erbmerkmalen aus der Familie der Krebs-Gene ist beim Tumor das, was beim Auto ein durchgetretenes Gaspedal ist. Es handelt sich um Gene, die Wachstum und Zellteilung stimulieren; sind diese "Onkogene" infolge einer Mutation permanent "angeschaltet", wird die Zelle zu rastloser Vermehrung getrieben. Sie teilt sich im Zeitraffer.

Eine weitere Gruppe von Krebs-Genen ist mit der Bremse im Auto vergleichbar - diese "Tumorsuppressor"-Gene hemmen im intakten Zustand das Zellwachstum. Ist das Gen durch Mutation ausgefallen, funktioniert die Zellbremse nicht mehr. Auch das "berühmteste" Krebs-Gen, genannt p53, gehört zu den Wachstumsbremsen. p53 ist bei ungefähr jedem zweiten Tumor ausgefallen. Als "Wächter des Erbguts" sorgt p53 dafür, dass die Zelle bei Gen-Schäden entweder ihr Wachstum einstellt oder kontrollierten Suizid begeht.

Wieder andere Krebs-Gene sind jene Erbmerkmale, die den Kopiervorgang der Erbsubstanz überwachen. Fallen diese Reparateure aus, häufen sich die Fehler beim "Abtippen" des Erbguts. Mit diesen Mutationen steigt das Tumorrisiko. Ebenfalls wichtig sind Gene, die die korrekte Aufteilung der verdoppelten Erbsubstanz unter der Zellteilung kontrollieren. Sind sie defekt, kommt es zu genetischen Unfällen bei der Zellteilung, zu ungleichen Chromosomenzahlen und erheblichen genetischen Veränderungen.

Das neue Bild vom Krebs geht zu einem wesentlichen Teil auf den amerikanischen Mediziner Bert Vogelstein von der Johns-Hopkins-Universität in Baltimore zurück. Vogelstein entwickelte am Beispiel von Dickdarmkrebs ein Stufenmodell der Tumorentstehung (siehe Infografik). Danach kann eine erste Mutation eines Suppressor-Gens in einer Schleimhautzelle des Dickdarms bereits die Vorstufe zu einer Geschwulst hervorrufen. Wird dann ein das Wachstum stimulierendes Onkogen "angeschaltet", wächst ein echter Tumor in der Darmschleimhaut. Dieser, medizinisch Adenom ("Darmpolyp") genannt, hat allerdings die natürlichen Organgrenzen noch nicht übertreten. Ist nun das p53-Gen defekt, fällt auch die letzte Barriere. Aus dem Adenom wird ein Karzinom, ein zerstörerisch wachsender und in andere Organe "streuender" Krebs.

Schon heute hat das Wissen um Krebs als genetische Krankheit die Diagnostik, also die Erkennung von Krebsleiden, revolutioniert. Menschen, die aufgrund bestimmter Mutationen ein erhöhtes vererbtes Risiko zum Beispiel für Darm- oder Brustkrebs in die Wiege gelegt bekommen haben, lassen sich mit einem einfachen Bluttest herausfinden. Denn diese Betroffenen haben eine bestimmte genetische Veränderung in jeder ihrer Körperzellen, nicht nur in den Zellen der Geschwulst. Fällt der Test positiv aus, lässt sich das Risiko unter Umständen durch regelmäßige Vorsorge-Untersuchungen verringern. Fällt der Test negativ aus, bedeutet das für den Betroffenen Erleichterung - keine erhöhte Krebsgefahr.

Auch für die Behandlung von Krebs hat das Wissen um seine molekularen Ursachen eine Tür aufgestoßen. Zumindest in der Theorie ist es verlockend, die genetischen Schreibfehler in der Erbinformation, dem "Buch des Lebens", einfach auszuradieren und durch korrekte Buchstaben zu ersetzen. Eben das versucht die Gentherapie - ohne das ihr bisher der Durchbruch geglückt wäre. Noch sind viele technische Hürden zu überwinden.

Vor allem jedoch darf nicht unterschätzt werden, dass mit den Genmutationen in der Krebszelle zwar der Auslöser für bösartiges Wachstum gefunden, die Krankheit als solche aber noch lange nicht verstanden ist. Die Schwierigkeiten beginnen oberhalb der Gene. Denn jedes Erbmerkmal enthält nicht etwa nur den Bauplan für ein einziges Einweißmolekül, sondern gleich für mehrere Varianten.

Jedes dieser Proteine ist aber nur ein winziger Bestandteil im Netzwerk der Zelle, das seinerseits mit anderen Zellen und Organsystemen über diverse Kanäle Informationen austauscht. Wer den Krebs wirklich verstehen will, muss auch in diesen Mikrokosmos hinabtauchen.

Mit einer schon heute unübersehbaren Vielfalt neuartiger Wirkstoffe versucht die "molekulare" Medizin, ausgetretene Pfade der Krebs-Behandlung zu verlassen. Das Prinzip all dieser Versuche besteht darin, in das entgleiste Wachstum der Krebszelle gezielt, auf der Basis des molekularen Detailwissens, einzugreifen. Neben der Gentherapie gehört zum Beispiel die Behandlung mit Antikörpern zu den immer mehr erprobten Verfahren. Diese Antikörper sind Eiweißmoleküle, die gegen bestimmte Bestandteile der Tumorzelle gerichtet sind. Ein anderer Ansatz ist die Behandlung mit Stoffen, die das Wachstum der Blutgefäße im Tumor hemmen und diesen damit von seinen Lebensadern abschneiden sollen.

Kritiker sehen die Gefahr, dass mit diesen nicht ausgereiften und zu wenig erprobten Verfahren bei den Krebspatienten falsche Hoffnungen geweckt werden. Sie verweisen darauf, dass die Krebsbehandlung nach wie vor auf den konventionellen Verfahren - Chirurgie, Strahlenbehandlung und Chemotherapie - beruht. Und sie bemängeln, dass ihrer Meinung nach die Forschung im Labor im Vergleich mit der mühsamen Suche nach besseren Wegen zur Behandlung der Patienten zuviel Geld bekommt.

Der Krebsspezialist Dieter Kurt Hossfeld vom Hamburger Universitätsklinikum ist gar der Meinung, dass der Krebs "unbesiegbar" ist, eine "Folge der Evolution, dieser ständigen Änderung des genetischen Materials". Vielleicht würde ihm da mancher andere Krebsforscher widersprechen. Schließlich waren auch Infektionskrankheiten wie Tuberkulose oder Pest früher unheilbar. Die Frage ist nur, wer am Ende Recht behält.

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