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Gesundheit: Zwischen Kummer und Knast

Berlin ist eine Hochburg der Schwänzer / Erste bundesweite Studie beleuchtet Schulverweigerung in Deutschland

Zu Beginn hängen sie in Kaufhäusern und Einkaufszentren herum. Wenn das zu langweilig wird, suchen sie anderen Zeitvertreib, aber der kostet meist Geld. Kleine Diebstähle hier und dort, und schon treffen sie auf falsche Freunde, bekommen Drogen angeboten, werden für krumme Dinger rekrutiert oder in rechtsradikale Kameradschaften aufgenommen. Dann kommen die ersten Straftaten, es folgen Jugendstrafen – Schule und Ausbildung rücken in weite Ferne.

So sieht das Worst-Case-Szenario aus, mit dem Kriminologen den Zusammenhang von Schuleschwänzen und Jugendkriminalität beschreiben. Natürlich ist eine solche Karriere nur eine von vielen möglichen Entwicklungen, aber eben möglich. Die genaue Zahl der Schulverweigerer in Deutschland kennt niemand, geschätzt werden zwischen 80 000 bis 400 000. Das sind Hochrechnungen auf der Basis von Einzelerhebungen, die sich durch ihre Definition von Schulverweigerung unterscheiden. Doch in einem sind sich Lehrer und Experten einig: Immer mehr Kinder steigen aus, und sie werden immer jünger.

Schuleschwänzen ist natürlich so alt wie die Schule selbst. Doch mit dem Klischee des charmanten Abenteurers, der Eltern und Lehrer mit viel Chuzpe hinters Licht führt, hat die Realität heute wenig gemeinsam. Was Schwänzen heute bedeutet, wie aus Schulmüdigkeit Distanzierung wird, aus Schulangst Verweigerung, das hat das Deutsche Jugendinstitut München in der ersten bundesweiten Studie zu diesem Thema untersucht. Noch in diesem Jahr soll sie der Öffentlichkeit vorgestellt werden.

Maria Schreiber-Kittl, eine der beiden Autorinnen, erläutert, dass der schleichende Prozess spielerisch beginnt: „Es gibt intensivere und weniger intensive Zeiten des Schwänzens, und darin liegt nach Meinung vieler Experten die Möglichkeit einzugreifen. Wenn das aber nicht rechtzeitig gelingt, steht am Schluss die völlige Abkehr von der Schule." Dabei seien die allermeisten der befragten Schulverweigerer nicht prinzipiell gegen Schule eingestellt und hätten den Wunsch geäußert, ihr Leben in den Griff zu bekommen. Wer ist dann aber schuld an der alarmierenden Entwicklung? Sind es die Schüler, die nur Spaß wollen und keine Anforderungen mehr ertragen? Sind es die Eltern, die Schulbesuch und Lernerfolg ihrer Sprösslinge nicht mehr kontrollieren, weil sie für die Erziehung ab Schuleintritt die Lehrer zuständig sehen? Oder die Schule, die mit alten Lehrern, altbackenen Methoden und oft heruntergekommenen Gebäuden nicht gerade zum fröhlichen Lernen einlädt?

Spricht man mit Vertretern dieser drei Gruppen, sehen sie in der Regel die Schuld bei den anderen. Die Schüler erleben den Unterricht als lebensfremd, leiden unter Misserfolg, Notendruck und Stress. Schwierigkeiten mit Lehrern führen ebenso zu Schulangst wie Drohungen und Misshandlungen durch Mitschüler Wenn Lehrer dann nicht eingreifen, bleiben Kinder aus Selbstschutz lieber zu Hause. Eltern beschweren sich über die Tatenlosigkeit der Schule, die laut Studie in knapp der Hälfte der Fälle keine Versuche unternimmt, mit dem Schulverweigerer oder dessen Eltern die Situation zu lösen.

Taugen Polizisten als Helfer?

Gut zwei Drittel der Lehrer, die intervenieren müssten, fühlen sich selbst ausgebrannt und haben Angst vor ihren Schülern – sagen sie selbst. Erschöpfte Lehrer sollen also zunehmend lustlose Schüler für den Unterricht begeistern, ihnen Angst nehmen und die Disziplin für einen regelmäßigen Schulbesuch schaffen – das scheint hoffnungslos.

Berlin gehört zu den Hochburgen des Schwänzens in Deutschland. Bis zu 10 000 Kinder und Jugendliche sollen in der Hauptstadt den Schulbesuch hartnäckig verweigern. Dennoch wurde das Problem lange Zeit weitgehend ignoriert. Noch vor zwei Jahren war der Senat auf eine parlamentarische Anfrage hin nicht in der Lage, auch nur eine Frage nach Art und Umfang von Schulverweigerung zu beantworten. Nun wird gezählt. Genaue Angaben über versäumte Unterrichtstage in allen Bezirken der Stadt sollen den Bedarf an Hilfsangeboten ermitteln. Schulsenator Klaus Böger stellt sich dem Dilemma, obwohl er die Hauptverantwortung für das Schwänzen bei den Eltern sieht.

Tatsächlich geben die Familienverhältnisse den Kindern oft eher Anlass zur Unruhe, als ihnen Geborgenheit zu vermitteln. Jede dritte Ehe in Deutschland wird geschieden, Kinder stehen oft zwischen ihren Vätern und Müttern und müssen sich mit einer neuen Familie auseinandersetzen. Etliche Eltern sind arbeitslos, tabletten- oder alkoholabhängig, schlagen ihre Kinder oder sind schlicht überfordert, ein Familienleben zu gestalten. Dass solche Lebensumstände das Schwänzen begünstigen, ja, zu einem Hilferuf der Kinder in schwieriger Situation machen, steht für die Experten außer Frage.

Maria Schreiber-Kittl hat bei den Befragungen große Verunsicherung bei den Eltern beobachtet. Oft komme es zu Überreaktionen, sei es, dass sie die Augen vor dem Problem verschließen oder zu drakonischen Strafen greifen – beides untaugliche Mittel, um die Kinder in die Schule zurückzubringen.

Was aber tun? Wenn der Kampf gegen das Schwänzen debattiert wird, geht es seit ein paar Jahren um das so genannte Nürnberger Modell. In der fränkischen Stadt versuchen Polizei und Schulamt seit 1998 gemeinsam, gegen Schwänzer vorzugehen. Dabei spielen geschulte Polizisten eine zentrale Rolle. Sie holen säumige Schüler von zu Hause ab, suchen aktiv an Schülertreffpunkten nach Schwänzern und bringen diese zur Schule oder nach Hause. Das Schul- und das Jugendamt werden informiert und müssen sich nach einem „Erziehungsgespräch“ um die weitere Betreuung des Jugendlichen kümmern. Initiator des Programms waren nicht etwa Schulbehörden, sondern der bayerische Innenminister Günter Beckstein.

Obwohl mittlerweile auch einige Städte außerhalb Bayerns nach diesem Modell arbeiten, muss sich Beckstein viel Kritik gefallen lassen. Vom Law-and-Order-Aktionismus ist die Rede und von einer Kapitulation der Pädagogik. Doch Beckstein verteidigt gerade die Rolle der Polizei: „Es ist wichtiger, dass die Polizei gegen beharrliche Schulschwänzer vorgeht, als zum Beispiel die Parkuhren zu kontrollieren.“ Dabei verweist er auf eine mit dem Schuleschwänzen beginnende „Verwahrlosungstendenz“.

In Nürnberg ist das Problem noch überschaubar. In Berlin aber sind es Tausende, die den Schulbesuch verweigern. Auch daran dürfte Becksteins Berliner Amtskollege, Ehrhardt Körting, denken, wenn er das Nürnberger Modell grundsätzlich ablehnt und stattdessen pädagogische Maßnahmen fordert. Aber Pädagogik ist teuer. Und die Notwendigkeit, trotz leerer Kassen in Projekte für Schulverweigerer zu investieren, wird längst nicht überall gesehen.

Individuelle Betreuung

Immerhin versuchen rund 50 Initiativen in Deutschland, Schulaussteigern eine zweite Chance zu geben. So unterschiedlich die Projekte arbeiten, sie alle bieten, was es in der Regelschule viel zu selten gibt: eine individuelle Betreuung der schwierigen Schüler. Ein Team aus Lehrern, Psychologen und Sozialarbeitern versucht, das soziale Umfeld der Jugendlichen in den Lernprozess einzubeziehen. Dieses Lernen in Kleinstgruppen ist zeit- und nervenaufwändig, denn zu Wissensdefiziten kommt häufig noch Aggressivität. Den Hang zur Gewalt gilt es, sozial verträglich zu kanalisieren. Wenn es dann noch gelingt, die oft verschütteten Fähigkeiten der Schwänzer hervorzuholen, ist ein wichtiger Schritt zur Besserung getan.

Gerlinde Busch leitet das erste Berliner Schulverweigerer-Projekt in Hellersdorf. Sie verweist auf eine Erfolgsquote von 60 bis 70 Prozent: „Wir erreichen natürlich nicht Tausende von Schwänzern hier in dieser Stadt. Aber bei denen, die wir erreichen, hat es sich für die Mehrheit ausgezahlt. Man muss diesen Kindern die Angst nehmen und ihnen neue Erfahrungen mit Schule vermitteln, um sie zu motivieren, durchzuhalten und sich anzustrengen.“

Karsten Deventer

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