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Gesundheit: Zwischen Wissen und Werturteil

Eine nationale Akademie müsste auch die Unsicherheit der Forschung betonen Von Gert G. Wagner

Eine nationale Akademie der Wissenschaften bietet Chancen – und birgt Gefahren. Insofern haben Wolfgang Frühwald, der sich in dieser Zeitung zustimmend geäußert hat (Tagesspiegel vom 14. August), und Ulrich Herbert, der sich an dieser Stelle skeptisch gezeigt hat (11. August), beide recht. Wie so oft im Leben kommt es auf Details an. Ob die Akademie als deutsche Vertretung bei internationalen forschungspolitischen Entscheidungen akzeptiert werden wird, hängt davon ab, wie sie mit den Forschungsorganisationen zusammenarbeitet. Und eine klug agierende „Deutsche Akademie der Wissenschaften“, die der Politik die Unsicherheiten und Beschränktheit wissenschaftlicher Erkenntnis verdeutlicht, kann Politikberatung und Politik in Deutschland auf ein höheres Niveau heben. Eine vorlaute Akademie kann aber auch zu einem ärgerlichen „Zentralkomitee für richtig und falsch“ werden. Die Akademie ist einen Versuch wert. Man kann ihn riskieren, da die Akademie nicht im Elfenbeinturm agieren kann, sondern stets kritisch diskutiert werden wird.

Die deutsche Wissenschaft wird auf internationaler Bühne nicht zentral vertreten. Dies ist Stärke, wie Herbert sagt, und Schwäche, wie Frühwald sagt, zugleich. Die Vielzahl von Forschungsorganisationen und das Bundesministerium für Bildung und Forschung, die Deutschland international und in Europa vertreten, sichern Pluralität. Gleichzeitig fehlt es – zumindest gelegentlich – an zentraler Koordination und Absprachen. So sind die Sozial- und Geisteswissenschaften bei den Planungen der europäischen Forschungsinfrastruktur, beispielsweise der Digitalisierung von Archivbeständen und künstlerischer Werke, nur punktuell vertreten. Eine nationale Akademie könnte hier hilfreich sein. Ihr Erfolg ist nicht garantiert – aber sie könnte eine Lücke, die real existiert, schließen.

Auch in der Politikberatung, die ein zweites Hauptziel der nationalen Akademie sein soll, gibt es Verbesserungsbedarf. In Deutschland ist es für Öffentlichkeit und Politik schwer zu erkennen, wann ein Wissenschaftler auf Basis gesicherter Erkenntnis spricht und wann er sich Wissen anmaßt. Und noch schwieriger ist es zu erkennen, wenn ein Wissenschaftler private Werturteile, zum Beispiel über eine seiner Meinung nach unangemessen gute Versorgung der Rentner, in einen wissenschaftlichen Mantel kleidet, weil er hofft, dadurch seine Überzeugungskraft zu stärken. Durch die Anmaßung gesicherten Wissens und den Missbrauch von Werturteilen hat die Wissenschaft viel an Überzeugungskraft verloren. „Man kann doch zu jeder Meinung sich ein Gutachten kaufen“, glauben viele in Öffentlichkeit und Politik.

Eine nationale Akademie kann helfen, den Durchblick zu verbessern, aber sie muss auch deutlich sagen, wenn die Wissenschaft nur ungesichertes Wissen anbieten kann. Der Gesellschaft und politischen Entscheidern ist auf jeden Fall damit geholfen, wenn Unsicherheit deutlich herausgearbeitet wird. Politiker werden Unsicherheit viel leichter zugeben, wenn sie von der Wissenschaft dabei unterstützt werden. Wo gut gesichertes Wissen zur Verfügung steht, sollte es eine Akademie aber ebenfalls deutlich sagen (das wird in vielen Bereichen allerdings seltener der Fall sein, als dies viele Wissenschaftler glauben).

Mindestens so wichtig ist es, Werturteile offenzulegen. Damit tun sich einzelne Wissenschaftler oft schwer, da sie als Staatsbürger ja auch politische Überzeugungen haben. Werturteile zu erkennen, ist in der Politikberatung sehr wichtig. Denn fast alle großen gesellschaftlichen Probleme sind ohne politische Willensbildung nicht lösbar. Dazu muss die Wissenschaft, will sie Autorität haben, aber schweigen.

Beispielsweise gibt es keine „richtige“ Gesundheits- oder Rentenreform. Das wäre nur der Fall, wenn es Reformen gäbe, die kurz- und langfristig alle Menschen besserstellen, als es ohne die Reform der Fall wäre. In der Wirklichkeit geht es aber um Entscheidungen, wer schlechtergestellt werden soll: die heutigen Rentner oder die jungen Beitragszahler? Gesunde oder Kranke? Selbst die Geschlechterfrage spielt eine Rolle: Sollen Frauen, die eine längere Lebenserwartung als Männer haben, mehr Beiträge zahlen oder nicht?

Das alles sind Fragen, die Wissenschaftler nicht beantworten können. Dafür sind die Parlamente da. Das immer wieder mit Autorität deutlich zu sagen, wäre eine wichtige Aufgabe einer nationalen Akademie.

Gert G. Wagner lehrt Volkswirtschaft an der TU Berlin und ist Forschungsdirektor am Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung.

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