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Im Seminar werden Konfliktsituationen durchgespielt.

© dpa

Gewalt auf der Straße: Wer bettelt, hat schon verloren

Was tue ich, wenn ein Fremder Streit sucht? Oder zuschlägt? Ralf Bongartz ist Ex-Polizist und kann viele Tipps geben. Unser Autor hat ein Seminar bei ihm besucht.

Um etwas zu erklären, erzählt Ralf Bongartz gern kleine Geschichten. Sie sind wahr und haben oft ein verblüffend gutes Ende. Eine davon spielt nachts in Essen, in einem Linienbus, der gleich losfahren soll. Ganz hinten lümmeln drei Jugendliche, jeder von ihnen eine Kippe im Mund und eine Dose Alkopops in den Händen, obwohl beides im Bus verboten ist. Der Fahrer überlegt, was er tun kann. Er erinnert sich an das Training bei Bongartz, setzt sich zu den dreien – und bittet um eine Zigarette.

„Die Jugendlichen sind baff und geben ihm die Kippe“, sagt Bongartz und schlüpft kurzerhand in die Rolle des Fahrers. Dafür nimmt der 51-Jährige auf seinem Stuhl am Ende des Seminarraums Platz, die Beine entspannt nach vorne geschoben, und zieht wieder und wieder an einer imaginären Zigarette. Dann richtet er sich auf und wird zu einem der Jungs. „Ey“, sagt er ein bisschen aufgekratzt, „wer fährt jetzt eigentlich den Bus?“ – Nun wieder Bongartz als Fahrer, mit lässiger Stimme: „So lange hier geraucht und getrunken wird, keiner.“ Ruhig fügt er hinzu: „Leute, ich rauche und trinke auch mal gerne, aber ich bitte euch, hier drin damit aufzuhören.“

Die Pointe sitzt, die schauspielerische Einlage ist beendet. Ralf Bongartz steht auf und erklärt: „Das hat damals gut funktioniert. Die drei haben das Rauchen und Trinken sofort eingestellt.“ Ein Raunen geht durch den Raum, und der Übungsleiter selbst knipst wie so oft ein Lächeln an, als wollte er sagen: Sehr ihr, geht doch!

„Konflikt und Körpersprache“ heißt das Seminar, das ich an diesem Dienstag im schleswig-holsteinischen Fuhlenhagen besuche. Es ist eines von 120, die Bongartz jedes Jahr in ganz Deutschland veranstaltet. Die rund 20 Teilnehmer heute sind fast alle Sozialarbeiter, manche haben Erfahrung im Umgang mit schwierigen Jugendlichen, die meisten arbeiten im sozialpsychiatrischen Dienst. Bongartz soll ihnen erklären, wie man Konflikte frühzeitig entschärft und Gewalt abwendet. Das ist seit vielen Jahren sein Thema.

Begonnen hat er mit 17 als Polizist, später studierte er und wechselte zur Kripo, untersuchte Tötungs- und Sexualdelikte. „Kernige Sache“, sagt er in seinem leichten rheinischen Dialekt. „Da brauchte ich auch mal was Schönes.“ Das Schöne war das Theater. Drei Jahre Schauspielstudium hat Bongartz dann noch absolviert, klassische Pantomime. Heute führt er diese zwei Welten – Straße und Bühne – zusammen: als selbstständiger Trainer, der Interessierten erklärt, wie sie sich in Gefahrensituationen verhalten sollten, und mehr noch, wie man diese verhindern kann. Schon die letzten fünf Jahre bei der Polizei war das sein Job. Als Trainer hat er zum Beispiel mit den Lehrern am Gutenberg-Gymnasium in Erfurt gearbeitet, nach dem Amoklauf dort 2002.

Aufmerksam geworden auf Bongartz bin ich durch ein Buch, das er vor kurzem veröffentlicht hat. „Nutze deine Angst“ heißt es, ein praktischer Ratgeber, was man tun kann, wenn man in der U-Bahn, auf der Straße oder sonst wo bedroht wird. Mir ist so etwas noch nie passiert, was vielleicht bloß Glück war. Jedenfalls bin ich „Futter“, wie Bongartz es ausdrückt. Denn als Mann unter 40 passe ich perfekt ins Beuteschema von Gewalttätern. Mal abgesehen davon, dass ich nicht besonders furchteinflößend aussehe und auch keinen Kampfsport beherrsche. Wenn ich von Fällen wie dem von Johnny K. lese, frage ich mich: Was hätte ich tun können, wenn ein Freund von einer Gruppe blöd angemacht und angegriffen worden wäre? Und was, wenn es mich getroffen hätte? Ehrlich gesagt, habe ich keine Ahnung.

Genau das ist das Problem, sagt Bongartz. „Die meisten sind auf eine solche Situation überhaupt nicht vorbereitet und damit voll ihren Automatismen unterworfen.“ Im Seminar erklärt er, dass es Angst- und Wuttypen gebe. Die einen wollen sich bloß mit keinem anlegen und versuchen bei Gefahr, wegzurennen, die anderen lassen sich leicht provozieren und werfen sich in die Konfrontation. Beides ist nicht unbedingt eine gute Idee.

Warum Körpersprache so wichtig ist

Der Tag beginnt mit Übungen zur Körpersprache. Denn die ist bei einem Konflikt im Zweifel wichtiger als das, was gesagt wird. Status – das ist für Ralf Bongartz das entscheidende Wort. Es geht dabei um die Signale, die wir durch Stimme, Mimik, Blickverhalten, Bewegungen aussenden. Zusammen mit einem Übungspartner soll sich nun jeder Seminarteilnehmer einen Streit zu einem x-beliebigen Thema liefern. Einmal steht man dabei breitbeinig da, die Fußspitzen deuten nach außen, einmal hat man die Beine dicht aneinander, die Fußspitzen deuten geradeaus oder nach innen. „Haben Sie was bemerkt?“, fragt Bongartz hinterher. Und ja, tatsächlich: In der ersten Position wirkt man dominanter, weil man sich im „Hochstatus“ befindet, im Gegensatz zum „Tiefstatus“ der zweiten Position.

In Bongartz’ Buch heißt es: „Täter suchen das geringste Risiko ... Sie scheuen Statushöhe und Statusgleiche.“ Wer sich selbst klein macht, lädt damit geradezu ein zu einer Konfrontation. Bewegt man etwa den Kopf nach hinten, senkt das den Status. „Sagen Sie dagegen ,Lass mich in Ruhe!‘ und kippen den Kopf zwei Zentimeter nach vorne, ist das wirksamer“, erklärt Bongartz. Auch hektische Bewegungen, Kichern oder ein zu freundlicher Gesichtsausdruck lassen Tiefstatus erkennen. „Und wo ich dem anderen nicht die Stirn biete, wird er aggressiver.“

Eine Seminarteilnehmerin meldet sich. Wenn man große Angst habe, könne das dann überhaupt funktionieren mit den ruhigen Bewegungen und der festen Stimme? Da zitiert Bongartz einen seiner Lehrer: „Fake it until you make it.“ Wenn die Angst übermächtig wird, solle man versuchen, den eigenen Atem wahrzunehmen, rät der Trainer. Seine Unsicherheit zu überspielen, sei immer noch besser, als sie zu zeigen. Wer bettelt oder fleht – und sei es nur durch seine Körpersprache –, hat meist schon verloren.

Nun bedeutet das im Umkehrschluss nicht, seinen Status bis ganz nach oben zu schrauben. Denn das würde das Gegenüber noch mehr provozieren. Ziel muss es sein, neutral, aber bestimmt aufzutreten. Weder herabsetzend noch unterwürfig zu wirken. Das ist die erste Lektion, die ich mitnehme.

Der Trainer selbst wirkt wie die Ruhe selbst. Als ihm eine Teilnehmerin sagt, sie glaube nicht, dass er ihr Verhalten ändern könne, antwortet er nur „Warten Sie’s ab“ und knipst wieder sein Lächeln an. Auf einen anderen Einwand erwidert er: „Ich will Sie nicht überzeugen, ich bitte Sie nur, Erfahrung mit ein paar Konzepten zu sammeln.“ Aha, das ist sie wohl schon: die Deeskalationsstrategie, die Bongartz später üben will.

Während der Mittagspause unterhalten wir uns über Gewalttaten im öffentlichen Raum, die für Schlagzeilen gesorgt haben. Bongartz erwähnt Dominik Brunner, den Mann, der in der Münchner S-Bahn Kinder schützte und dafür mit seinem Leben bezahlte. Der habe fast alles richtig gemacht, dann aber einen entscheidenden Fehler begangen, als er sich den Tätern in den Weg stellte. „Sie müssen immer einen Fluchtweg lassen.“ Alles andere führe zu neuer Eskalation.

Und was sage ich nun, wenn einer Streit sucht? „Wenn der ruft: ,Ey, du Assi, was glotzt du so blöd?‘..?“, fragt Bongartz und erklärt: „Kommt darauf an, wie nah er dran ist.“ Befindet er sich in 20 Metern Entfernung, sollte man ihn ignorieren, im Weitergehen aber nicht den eigenen Status senken, etwa durch fluchtartige Bewegungen. „Wichtig auch: Nicht in einen Tunnelblick fallen, sondern weiter auf die Umgebung achten.“ Ist er näher dran, kann man mit ruhiger Stimme sagen „Tut mir leid, ich habe Sie verwechselt“ und weitergehen. „Dringt er in meinen Nahbereich ein, muss ich mich der Situation stellen, etwa, indem ich frage: ,Können Sie mir sagen, warum Sie mich bedrohen?‘ Mit so was rechnen die nicht.“

Losplappern hilft

Den Aggressor verblüffen, diese Strategie taucht bei Bongartz immer wieder auf. Wer den Mut dazu hat, kann anfangen, endlos loszuplappern, im Stile Woody Allens. Wer noch mutiger ist, kann buchstäblich verrückt spielen. Eine konventionellere Strategie besteht darin, seinen Namen zu nennen, von sich zu erzählen und – den Tipp hat Bongartz von einem Kollegen aus Neukölln – die Fotos der Familie im Portemonnaie zu zeigen. Zweite Lektion des Tages: Kreativität ist, worauf es ankommt. Wie bei dem Busfahrer und den drei Jugendlichen in Essen.

„In Köln gab es einen Fall, da wurde einer zusammengeschlagen“, erzählt Bongartz. „Zehn Passanten haben sich drum herumgestellt, ihre Handykameras eingeschaltet und gebrüllt ,Hey, könnt ihr mal lächeln?‘. Die zwei Täter sind sofort abgehauen.“ Wenn man Zeuge einer Gewalttat wird, solle man nie gegen die Täter gehen, sondern höchstens dem Opfer helfen. „Schon wenn ich glaube, da wird einer angegriffen, ist es nicht klug, den Tätern zuzurufen: ,Hört auf mit dem Scheiß!‘ Besser ist, das Opfer zu fragen: ,Brauchst du Hilfe?‘“ Und: Wer sich einmischt, muss einen Plan haben und sich mit anderen verbünden. „Am besten sind gemischte Teams, mit Frauen und älteren Leuten. Dann reingehen und das Opfer an den Beinen rausziehen.“

Am Nachmittag steht Bongartz’ Deeskalationstraining an. Ich lerne: Wenn mir jemand dumm kommt, darf ich nicht zurückpöbeln, nicht drohen und keine Vorwürfe erheben. Sondern muss nachdrücklich sagen, was ich will. Wenn nötig, fünf, sechs Mal. Wie eine Schallplatte mit Sprung. Der andere soll die Möglichkeit haben, gesichtswahrend aus dem Konflikt rauszukommen.

Klingt alles einleuchtend. Aber mit den Rollenspielen ist es so eine Sache. Als ein Seminarteilnehmer, Mitarbeiter in der Kreisverwaltung Lauenburg, mir immer wieder ein lautstarkes „Ja!“ ins Gesicht brüllt, fällt es mir nicht schwer, das mit einem freundlichen „Nein“ zu beantworten. Eben beim Essen haben wir doch so nett miteinander geplaudert. Und als ich meiner Sitznachbarin, die in die Rolle eines aggressiven Partygasts geschlüpft ist, bedeuten soll, meine Feier zu verlassen, mache ich auch das, ruhig und souverän. Aber werden mir diese Simulationen in der Realität helfen können? Ich ertappe mich bei dem Gedanken, dass dem Seminar ein echter Gewalttäter fehlt.

Auch Ralf Bongartz sagt, dass es schon eine ganze Reihe solcher Rollenspiele brauche, um „fit“ zu werden. Und natürlich sind seine Tipps keine Wunderwaffen. Trotzdem könnte der Tag kommen, an dem ich dankbar sein werde für sie.

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