zum Hauptinhalt

Gewalt im Gefängnis: "Im Jugendvollzug herrscht ein übertriebenes Männlichkeitsideal"

In einem sächsischen Jugendgefängnis hatten Mitgefangene einen 18-Jährigen mit kochend heißem Wasser übergossen, mit einem Besenstiel geschlagen, bis er schließlich versuchte, sich selbst das Leben zu nehmen. Wie kann man die Gewaltbereitschaft inhaftierter junger Männer in den Griff bekommen?

Als der junge Häftling einen Selbstmordversuch überlebte, wollten ihn seine Peiniger – ein 15- und ein 24-Jähriger – mit einem Gürtel erdrosseln. Doch das Opfer entkam. Jetzt, über ein Jahr später, werden die beiden Gewalttäter angeklagt. 

Herr Wirth, wie können solche Quälereien in einem Jugendgefängnis über lange Zeit unbemerkt bleiben?

Die naheliegendste Erklärung ist die Scham des Betroffenen. Dieses Nicht-ansprechen-Wollen. Gerade im Jugendvollzug herrscht ein übertriebenes Männlichkeitsideal, Konflikte werden nicht rhetorisch, sondern mit Gewalt ausgetragen. Wer sich nicht behaupten kann, schämt sich.

Gibt es typische Orte der Gewalt im Gefängnis?

Sie denken an die Duschen in den amerikanischen Filmen. Aber wir haben während unserer Studien gesehen, dass Gewalt sich über die gesamte Anstalt verteilt. Das ist ähnlich wie auf Schulhöfen. Es passiert aus der Situation heraus. Nur etwa einer von zehn Fällen wird geplant. Die Vorstellung, man könnte auf einen bestimmten Ort schauen, dann hätte man alles im Griff – das funktioniert nicht.

Über entsetzliche Gewalt unter Jugendlichen im Knast wird immer wieder berichtet. Muss man das einfach hinnehmen, wenn kriminelle, gewalttätige Jugendliche aufeinander treffen? Oder könnte man etwas ändern?

Den Königsweg kann es nicht geben. Aus unseren Studien haben wir die Schlussfolgerung gezogen, dass es im Vollzug immer darum gehen muss, beide Seiten - Personal und Gefangene - gegen Gewalt zu sensibilisieren. Dabei ist es am sinnvollsten, eine Doppelstrategie zu fahren. Auf der einen Seite sollten Mitgefangene ermuntert werden, Gewalt zur Anzeige zu bringen. Dann muss ihnen natürlich auch Opferschutz versprochen werden. Dazu muss es ein breites Beschäftigungs- und Freizeitangebot sowie spezielle Antigewalttrainingsprogramme für auffällige Gefangene geben.

Auf der anderen Seite muss man Gewalt konsequent und schnell ahnden, damit klargemacht wird, dass sie nicht zu tolerieren ist. Disziplinarverfahren und Strafmaßnahmen müssen direkt folgen. Natürlich steht der Erziehungsgedanke im Jugendvollzug im Vordergrund. Ein Gewaltausbruch wird zum Anlass genommen, die Taten bewusst zu machen. Aber beides muss zusammenkommen.

Und das hilft dann?

Dieser Vorfall in Sachsen ist sehr schlimm und darf in keiner Weise relativiert werden. Aber vor dem Hintergrund, dass für zwei Drittel der jungen Männer im Jugendgefängnis Gewalttätigkeit etwas ganz Normales ist, passiert eher wenig. Es ist nie genug, was dagegen getan wird, aber der Weg ist gut.

Sie sagen, im Gefängnis findet Gewalt ähnlich statt wie auf dem Schulhof. Entsteht nicht im Gefängnis noch mal eine neue Form der Gewalt – durch das Gefühl, gedemütigt zu werden, und den Zwang, sich selbst zu behaupten?

Wenn Menschen weggesperrt werden, wenn ihnen die Freiheit genommen wird, wird natürlicher zusätzlicher Druck erzeugt. Aber ein modernes Gefängnis ist kein Kerker. Den Jugendlichen werden eine Menge Angebote gemacht. Und die Gewalt geschieht genauso situativ wie auf dem Schulhof. Nur dass es im Gefängnis zum Glück keine Waffen gibt.

Dafür aber wesentlich mehr gewaltbereite Jugendliche. Gibt es bestimmte Tätertypen?

Wir können mit unseren Studien nur statistische Aussagen treffen, keine Typisierungen vornehmen. Auffällig an der Statistik ist, dass das Problem unter den jüngeren Häftlingen schlimmer ist als unter Erwachsenen. Und viele der Gewalttäter haben keinen Schul- und Berufsschulabschluss, sind drogenabhängig oder suizidgefährdet. Randständige Biografien sind natürlich im Jugendgefängnis ohnehin stark ausgeprägt. Doch unter ihnen ist der Anteil derer, die gewalttätig sind, noch größer.

Wie kann man diese jungen Männer erreichen?

Am wichtigsten sind Ausbildungs- und Arbeitsangebote. Der Alltag muss strukturiert und die Kompetenzen gestärkt werden, die man in der Welt draußen brauchen kann. Unternehmen sollten rein in die Anstalten.

Darüber hinaus sind soziale Trainings- und Gesprächsangebote inzwischen Standard geworden in den Jugendvollzugsanstalten. Hier können die Teilnehmer lernen, sich in der Gruppe zu behaupten, ohne Gewalt anzuwenden, oder allgemein ihr Selbstbewusstsein und ihre Empathiefähigkeit stärken. Betreuungsteams und feste Ansprechpartner sollten die Jugendlichen stützen.

Sollten Jugendliche überhaupt ins Gefängnis geschickt werden?

Maßnahmen, die präventiv wirken, sind immer besser. Aber der durchschnittliche Häftling hat schon verschiedene Maßnahmen hinter sich, eine Karriere der Vergehen, sodass den Jugendrichtern keine Alternative mehr bleibt. Die Bürger würden auch nicht verstehen, wenn wiederholt straffällige Täter frei herumliefen. Auf der anderen Seite ist das Gefängnis für manche Jugendliche sogar ein guter Ort, der erste, an dem sie sich konsequent ihrer schulischen und beruflichen Bildung widmen.

Die Fragen stellte Parvin Sadigh.

Wolfgang Wirth ist Leiter des Kriminologischen Dienstes des Landes Nordrhein-Westfalen und Autor der Studie "Gewalt unter Gefangenen. Kernbefunde einer empirischen Studie im Strafvollzug des Landes Nordrhein-Westfalen" aus dem Jahr 2007.

Zur Startseite

showPaywall:
false
isSubscriber:
false
isPaid:
showPaywallPiano:
false