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© Foto. dpa

Hamburg: Beste Ludenöffnungszeiten

Wenn hier getankt wird, dann meist kein Sprit: In der „Esso“ auf der Reeperbahn treffen sich Luden und Luder, Promis und Provinzler, ganz Normale und ganz, ganz Fertige. Bald aber könnte Schluss damit sein – denn St. Pauli hat seine Seele verkauft. Ein 24-Stunden-Report.

Mitten in der Nacht zieht einer die Pistole.

Kurz vor null Uhr auf der Reeperbahn, Spielbudenplatz, St. Pauli. Türsteher bauen sich auf. Eine lange Schlange vor einer Tür, Betrunkene fixieren Brüste im Rahmen ihrer Möglichkeiten, Frauen werben in gürtelkurzen Röcken um Kerle mit Kohle und Kettchen. Urin rinnt über den Bürgersteig. Alle starren hin.

Zum Glück kann man mit Zapfpistolen nicht schießen.

Der Laden mit Rotlicht heißt „Esso“. Fünf Gehminuten von der Bordellmeile Herbertstraße. Gegenüber vom „Thai Town“. Alte Säulen unterm Dach, Zapfsäulen, Super und Diesel, literweise. Daneben das, was eigentlich wichtig ist für die Menschen hier: der Shop. Dass jetzt, so spät am Abend, einer tankt, ist nicht normal.

Diese Tankstelle am Spielbudenplatz, zwischen Condomerie und Operettenhaus, weiße Schrift auf rotem Grund, bekannt als Nahversorger mit Bier und Frauen und manchmal auch Benzin, ist eigentlich keine Tankstelle. Sondern der Marktplatz von St. Pauli. Wo Cola mit Rotwein „Kalte Muschi“ heißt, wo man Salatgurken und Bockwürstchen für 99 Cent und Äpfel im Viererpack kaufen kann. Ein Rund-um-die-Uhr-Shop mit Tankfunktion. Wo das billigste Bier nur das doppelte Dosenpfand kostet. Wo die skurrilen Gestalten vom Kiez eingehen und aus. Die einzige Tankstelle, an der man noch vorglüht. Die einzige Tankstelle, die von Türstehern geschützt wird. Die, so heißt es in einem Schlager, Kult-Tanke vom Kiez.

Aber bald ist das alles vorbei.

Denn St. Pauli hat seine Seele verkauft. Die Tankstelle muss wohl schließen, wird plattgemacht, man munkelt: für ein Brauhaus aus Bayern. Der Kaufvertrag ist unterschrieben. Die Baugenehmigung dürfte die Abrisslizenz sein. Vielleicht in einigen Monaten. Vielleicht in drei Jahren. Brez’n und Weißwurst statt Astra und Frikadellen.

Aber noch steht all dem Henry im Weg. Hier sagt man „Inkasso-Henry“. Glatze und Riesenkette, Geldbündel, Sonnenbrille, Plauze. Ein Bär auf der Roten Liste: vom Aussterben bedroht. Inkasso-Henry war schon Türsteher, Geldeintreiber, Zuhälter – mit zehn Mädchen, die, sagt Henry, unter seinem Schutz standen. Inkasso-Henry ist betrunken, schlimmer betrunken als die anderen. Er will umfallen, die Zapfsäule hält dagegen. „Digger“, fragt Inkasso-Henry den Tankwart der Nachtschicht, Özgür, ein junger Kerl, „hast du mich überhaupt noch lieb?“ Heute war, sagt Henry, Hells-Angels-Party in Billstedt, viel Pina Colada und auch Frauen.

„Eine bodenlose Frechheit, dass meine Tankstelle weg soll“, lallt und brüllt Henry. Seine Stimme dröhnt wie Auspuff und Whiskey. „Ich bin Inkasso-Henry. Ich bin Prominenter hier.“ Henry fährt 380er SEL, lang und alt und kantig, V8. So einer braucht Super Plus. Und obwohl die bei der Shell 100 Oktan haben, viel besseren Stoff, tankt er hier, an der Esso, 98. Aus Überzeugung. „Schreib das ruhig.“ Henry holt ein Taxi und fährt weg. „Der gibt immer super Trinkgeld“, sagt einer. Die Legende lautet, er sei nur mit grünen Scheinen unterwegs.

Solche wie Inkasso-Henry sind St. Pauli. Anderswo wären sie peinlich. Hier gehören sie zum Geschäft. Inkasso-Henry bietet jetzt auch Kiezführungen an, für 40 Euro, inklusive „Jung mit ’n Tüddelband“, gesungen von Henry höchstselbst.

Das Problem der Reeperbahn ist, sagen Experten, dass britische und belgische Touristen rumgehen und gaffen. Die Frauen auf dem Kiez finden keine Kunden mehr, meint eine, weil alle gucken, aber keiner vögelt. Bleib doch mal stehen, halt doch mal an. Aber die Kerle laufen weiter, zur Tankstelle. Da kann man sich betrinken und dann wieder glotzen gehen. Früher war St. Pauli verrucht. Heute glauben die Touristen, St. Pauli sei verrucht. Irgendwann entdeckte die Stadt das Potenzial des Kiezes. Seitdem gibt es hier keine Schusswechsel mehr, stattdessen ein Glasflaschenverbot. Bier im Becher! Wein aus dem Tetrapak! Direkt neben der Tankstelle läuft ganzjährig das große Udo-Jürgens-Musical.

Und jetzt kauft diese bayerische Brauerei den Marktplatz. Die Esso.

Es riecht nach Urin bei Lars Schütze, dem Juniorchef der Tankstelle, einziges Mitglied der Interessengemeinschaft St. Pauli auf dem Tankplatz. Weil die immer pinkeln, sagt er, nachts kommen die und knöpfen sich auf und schiffen, wo sie gerade stehen. Mit dem Rücken zur Wand, Richtung Publikum. Sogar vorm Imbiss. Am Treppengeländer. Beliebte Stelle.

Schütze sorgt sich um St. Pauli. Er ist ein freundlicher Mann mit großen Ohren und hohem Körper. Zusammen mit Bruder und Vater Chef. Schütze kennt sie, die Haar-Styler mit den dicken Autos und dürren Frauen, die der C-Klasse mehr gönnen als ihrem Mädchen. „Einmal die Woche mit Superschaum“, empfiehlt die Reklametafel. „Waschen“, sagt Schütze, „kommen Kiezgrößen wie Wirtschaftsbosse.“

Dies ist die älteste Waschanlage Hamburgs. Von 1963. Vollautomatisch! Damals brandneu aus den USA. „Viele vom Senat putzen hier. Von den Konzernen, den Versicherungen. Die Mädchen vom Rotlicht, aber auch Verlagsmanager.“ Eine große Tankstelle für große Autos. Super für 1,30. „Saugen nur in Verbindung mit der Autowäsche kostenlos.“ Wenn die Tankstelle schließen muss, wird sein Herz bluten, sagt Schütze. Aber weil sie sanierungsbedürftig ist, weil Rieseninvestitionen nötig wären, war der Verkauf, sagt er, die einzige Option. Danach wird den Schützes auch das Parkhaus nicht mehr gehören, unter der Tankstelle, unter der Erde, wo die Huren ihre Geschosse neben denen der Udo-Jürgens-Musical-Besucher abstellen, man geht gemeinsam nach oben, dann trennen sich die Wege.

Mittags, wenn St. Pauli nicht neonfarben leuchtet, ist diese Tankstelle eine Tankstelle. Die Kunden sind zwar immer noch anders, irgendwie. Viele tragen Anzug und Kettchen, viele fahren dicke Autos, viele holen viele Scheine aus der Tasche, um kleine Beträge zu zahlen. Die Sexkinos nebenan sind auch tagsüber geöffnet, aber leer. Sie können länger als ihre Kunden. Jetzt wird gewaschen und geputzt und getankt. Wird es dunkel, wechselt das Publikum. Die Wäscher weichen denen, die schon mit allen Wassern gewaschen sind. Es gibt hier an der Kieztanke alles für den Wohlfühlaufenthalt im Rotlicht: Bier in Mengen. Red Bull. Wurst. Kondome, natürlich. Kippen. Klopapierrollen im Zweierpack. Einen Geldautomaten direkt im Tankstellenshop.

Oft kommen Huren mit den Kreditkarten ihrer Freier. Wir können dir das Geld auch kurz abheben, dazu musst du nicht aus dem Whirlpool raus. Na gut, sagen die Freier. Die Frauen nehmen sich dann auch mal, sagt Schütze, ein bisschen mehr mit, als die Freier denken.

23 Uhr. Vor der Tankstelle ist Krieg der Welpen. Möpse im Korb gegen Pitbulls ohne Leine. „Meine Schwarze hasst Männer“, sagt Frauchen. Daneben Wiebke aus Wandsbek mit kaputtem Roller, die schon ewig auf den ADAC wartet. Und vier Mädels mit so wenig an, dass die Kerle sabbern.

Am „Tiger-Imbiss“ verkauft Sylke Timm Currywurst und die Geschichte dazu. Sie rührt, abwesend, mit dem Löffel in gefrorenen Fritten. Zwei Kunden sitzen im Imbiss, Kuhlmann und Mayer. Sie behaupten, einen dicken Chevrolet zu fahren. Wenn das stimmt, opfern sie vieles dafür. Sylke Timm arbeitet schon sieben Jahre als Tankstellenimbissköchin. „Ich hab’ hier“, sagt sie, „schon alle getroffen.“ Udo Lindenberg, der gelegentlich zum Einkaufen kommt. Olivia Jones, die Dragqueen, holt immer Astra-Bier. Manchmal ist der Sohn von Uschi Glas da, aber der sei arrogant, ganz anders als Mama. Es kommen die ganz Normalen und die ganz Fertigen. Sylke Timm sieht man nicht an, dass sie 51 ist. Sie sieht älter aus.

Kennen wir uns, fragt Maria an der Tanke jeden, der vorbeikommt. Ach so, sagt sie dann immer, du bist es. „Ich sehe dich ja sonst nur ohne Klamotten.“ Maria ist 51 und macht den Job immer noch. Pinker Lippenstift. Schlechtes Einkommen. Maria verlässt die Tankstelle immer mit Gewinn. Mal 5,48 Euro, mal vier Euro glatt. Maria kommt aus Sachsen und braucht zum Arbeiten nur die Hände und den Koffer. Sie war im Kinderheim und zwei Jahre obdachlos. Sie sagt, sie sei ein Wesen, kein Mensch, und dass sie alle Dinge zerstöre, die sie anfasse.

Dann streikt der Rücknahmeautomat.

Maria sammelt Flaschen, geht mit dem Bon zur Kasse, holt sich ihr Geld, zieht wieder los. Der Koffer rollt nicht mehr gut, der Reißverschluss ist auch kaputt. Die Tanke am Kiez ist die Nachtbasis der Flaschensammler. 15, 20 von ihnen zirkulieren den ganzen Abend. Immer in die Mitte die Flasche, genau in die Mitte, und dann den Schieber zu, sagt Richy. Halt die Fresse, sagt Kalle. Maria sagt, sie spreche sieben Sprachen, seven languages. Im Pfandautomaten, sagt Richy, sei es doch wichtig, die Flaschen mittig – mittig! – auf den Boden zu stellen. Ihre Talente seien eine Gabe Gottes, sagt Maria. Haltet doch endlich mal die Fresse, sagt Kalle. Maria und ihr Koffer fahren fort.

Mewes sieht zu, grimmig. Am liebsten würde er sie gar nicht mehr reinlassen, die Sammler, die sich hinten, in der letzten Ecke des Tankstellenshopschlauchs, um die zwei Rücknahmeautomaten prügeln, alles vollstinken, sabbeln, Tankstellentürsteher Mewes nennt sie „das Publikum“, als gehörten sie nicht dazu. Die Esso musste sich extra ein Leergutlager anschaffen, sagt Mewes, weil die Leute viel mehr Flaschen anschleppen, als die hier jemals verkaufen könnten. Mach die Kippe aus, sagt Mewes zu einem Typen. Aber bei Galileo, sagt der andere, haben sie doch erzählt, das sei gar nicht gefährlich, Kippe und Tankstelle. Runter jetzt, sagt Mewes und packt ihn am Arm.

Mewes sieht aus wie Doug Heffernan, der kräftige Transportfahrer aus „King of Queens“. Mit der gleichen verkehrtherum aufgesetzten Schirmmütze und den netten Augen. Auf dem Kiez großgeworden. Dass es mal eine Tanke geben würde, die Türsteher nötig hat. Die Cliquen sind das Problem, sagt Mewes. Übermut, mal den Breiten machen. Gestern, nach einer Schlägerei, hat sich einer das große Brotmesser aus dem Backshop geklaut und wollte auf die Schläger los. Der Sicherheitsmann hat ihn auf den Boden geworfen, die Polizei geholt. Passiert.

Mewes sagt, die Tankstelle sei ein Barometer. Wenn’s den Leuten dreckig geht, ticken sie halt aus. Die sind dann eben wütend, sagt Mewes. Freitag sei am meisten los. Da kommen die Frustrierten von der Arbeit.

Die Fläche zwischen den Zapfsäulen ist mitternachts voller Menschen mit Bierdosen. Als wäre man im Stadtpark unter Bäumen, schön überdacht, der Regen stört nicht. Wer mit Auto kommt, ist selbst schuld. Muss warten. Die Menschenschlange reicht bis Säule 14. Mewes hat wieder die Tür zugemacht, wie in einem überfüllten Tanzlokal. Die Kassen kamen nicht nach, sagt er. Das hier ist die vollste Tankstelle der Welt mit den vollsten Menschen der Stadt.

Konstantin und Özgür arbeiten die ganze Woche, Nachtschicht, zehn bis acht. „Hör auf, Alder“, sagt Konstantin. Schon als Jugendlicher fing er auf dem Kiez an. Als Packer an der Tanke, später Azubi, jetzt Tankwart. Ach, Tankwart, der Job hier ist eher: Kassierer. Konfliktentschleuniger. Brandbekämpfer. Was er schon alles gesehen habe. Blutende. Leblose Fixer auf dem Tankstellenklo, noch mit Spritze im Arm. „Einer hat mal einen hier vor der Kasse abgestochen, Digger.“ Er mag diesen Job. Heute is’ ruhig, Digger. Einer kauft Hering in Senfsauce. Um 2.28 Uhr kriegt Konstantin die Kasse nicht mehr zu. Die Geldscheine. Er zählt die Kohle in Tausend-Euro-Bündeln ab.

Olivia Jones läuft auch ein, Stöckelschuhe, mindestens zwei Meter Mensch plus Abenteuerfrisur. Kauft Astra-Bier, einen Kasten, für „Olivias Safari“: noch eine Kiezführung, für Touristen aus Boppard, Büdingen und Buchen im Odenwald. Die Esso ist die erste Station. „Die Tanke ist in Gefahr!“, brüllt Olivia. Das hier sei nicht bloß ein Touri-Stützpunkt. Sondern auch ihr Supermarkt. Ein Stück St. Pauli. Wenn unsere Esso stirbt, stirbt auch die Reeperbahn, sagt Olivia Jones. Als würden in Berlin plötzlich alle Currywurstbuden zumachen. Die Zuhörer sind empört. Olivia sagt, sie müsse jetzt erst mal für kleine Flamingos.

Im Tankshop kaufen Gestalten Müllermilch Erdbeer. Ein Mann im Anzug trägt Stöckelschuhe. Die Puffgrößen und ihre Damen von der Herbertstraße fahren Autos in die Tiefgarage. Oben steht eine, die angeblich mal Jimi Hendrix’ Nachbarin war und jetzt auf der Straße lebt. Oder Per aus Berlin, Sonnenaufgangsliterat: „Das Wir stirbt aus, Digger. Nur noch Egoisten.“ Einer sagt: „Dem Vater meiner Freundin gehört die halbe Reeperbahn. Also pass auf, watt du schreibst.“

Und schließlich kommt auch die Nacht zum Höhepunkt.

Denn da kommt der, auf den man hier immer wartet. Karl-Heinz „Kalle“ Schwensen, den man, Gerichtsbeschluss und neues Selbstbild, nicht mehr beim alten Kieznamen nennen darf – enthalten war ein despektierliches Wort für Schwarze. Sein Mercedes, nach wie vor schwarz, hat eine Schramme, Kalles Image auch. Der Mann mit Pornobrille und Pornobart, kurzzeitig Manager der Görenband Tic Tac Toe, vor ein paar Jahren noch Herrscher vom Kiez, hat jetzt ein Profil im Internet-Karriereportal „Xing“. Schwensen kauft zwei Tüten Milch und hätte gar nichts gegen den Tod der Esso. „St. Pauli“, sagt er, „lebt vom Kommen und Gehen. Macht die Tanke halt zu.“

Drei Uhr ist der Shop leer. Tausend Füße haben die Fliesen schwarzgedreckt. Überall leere Kisten. Bifi ging gut weg, Bacardi Cola palettenweise, Müllermilch ohne Ende. Die Sonntagszeitungen sind da. Draußen pinkelt einer gegen einen nagelneuen Audi. Erleichtert stöhnt er auf. „Wie herrlich das läuft.“

Die Tanke wird erst später am Morgen wieder voll. Sonntags ab 5.30 Uhr, wenn die Huren Brötchen und Kaffee und Red Bull kaufen, in ihre Autos steigen, nach Hause fahren. Draußen riecht es nach Urin, der Tag erwacht.

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