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Zahlreiche Wanderer pilgern zum Morteratschgletscher bei Pontresina im Oberengadin (Archivbild vom 22.07.2003) an einem Schild vorbei, dass den Stand der Gletscherzunge aus dem Jahr 1970 markiert. Auf der Suche nach Abkühlung spazieren sie von der Station Morteratsch zum Fuße des Morteratschgletschers im Berninagebiet.

© picture-alliance / dpa

Historiker Guido Koller: Die Schweiz wollte 1945 Gletscher mit Atomkraft abschmelzen

Schweizer Bundesbehörden prüften 1945 nach Hiroshima, Gletscher mit Atomenergie abzuschmelzen. Das enthüllte der Historiker Guido Koller.

Von Andreas Oswald

Der Schweizer Historiker Guido Koller vom Bundesarchiv in Bern berichtet in einem Gastbeitrag für die „Neue Zürcher Zeitung“ (NZZ), dass die Schweizer Bundesbehörden 1945 nach den Atombombenabwürfen in Hiroshima und Nagasaki einen Vorschlag prüften, Gletscher mit Atomkraft abzuschmelzen.

Die damalige Klimaabkühlung hatte dazu geführt, dass die Gletscher immer gigantischer wurden und zahlreiche Alpendörfer bedrohten. Die Eismassen bewegten sich bis in die Täler vor. Als 1945 abbrechende Eismassen des Allalin-Gletschers 88 Bauarbeiter in dem Ort Mattmark unter sich begruben, setzte die Regierung eine Arbeitsgruppe ein, die gefährliche Gletscher überwachen sollte.

In dieser Situation, so schreibt Koller, sei der Vorschlag eines Zürcher Ingenieurs namens Weber gerade recht gekommen. Weber habe unter dem Eindruck der Atombombenabwürfe in Japan die Idee gehabt, Atomkraft friedlich zu nutzen. Der Regierung schlug er in einem Brief vor, „in Verbindung mit Atomenergie“ oberhalb von Grindelwald ein Wasserkraftwerk zu errichten. Unterhalb des Finsteraarhorns und der Jungfrau sollte Atomenergie in 3800 Metern Höhe Gletschereis schmelzen. Das Wasser sollte dann im Gefälle Strom produzieren.

Schweizer Behörden arbeiten gründlich

Die Regierung schickte nach Angaben von Koller den Vorschlag an das Eidgenössische Amt für Wasserwirtschaft. Die Experten rechneten aus, dass das Abschmelzen, umgesetzt mit einem konventionellen Kohlekraftwerk, viermal so viel Energie benötigen würde, wie durch Wasserkraft anschließend gewonnen würde.

Webers Idee, mit Atomenergie zu arbeiten, könnte möglicherweise wirtschaftlicher sein, vermutet das Amt und schaltet die Schweizer Studienkommission für Atomenergie ein, die sich wiederum an den berühmten Physiker Paul Scherrer von der Eidgenössischen Technischen Hochschule in Zürich wendet. Der Professor prüft und schreibt an die Behörde: „Die Ausnützung der Atomenergie in Verbindung mit Wasserkraftanlagen dürfte als unrationell bezeichnet werden.“

Aber Schweizer Behörden arbeiten gründlich. Um sicherzugehen, dass die Idee nicht verloren geht, schickt das Wasserwirtschaftsamt den Vorschlag an das Eidgenössische Amt für geistiges Eigentum. Das hält das Konzept für patentfähig. Aber, so schreibt Historiker Koller, an dieser Stelle bricht das Dossier ab. Der Zürcher Ingenieur Weber reichte den Vorschlag zur Gletscherschmelze nicht ein. Der sollte dann auch bald nicht mehr nötig sein.

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