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Panorama: Hoffnung in Trümmern

Die Erdbeben in Algerien töteten bislang 1600 Menschen. Helfer aus Europa suchen mit Hunden nach Verschütteten

„Dies ist ein einziger Friedhof", schluchzt Salima. Die junge Frau hockt auf einem Betonbrocken, der von dem Trümmerberg herunterrollte. Verzweifelt, zerbrochen. Irgendwo in diesem Riesenchaos aus Stahl und Stein vermutet sie die Überreste ihrer Familie. Ihre Eltern, sechs Geschwister. „Alle sind tot“, murmelt sie apathisch. „Gott möge mit ihnen sein.“ In diesem gigantischen, 30 Meter hohen Wohnungetüm, mit zehn Etagen und gut 100 Wohnungen, hatte niemand eine Chance zu überleben. Andere Frauen machen ihrer Verzweiflung lautstark Luft und schreien die Namen der Toten heraus. Die Retter zogen schon mehr als 250 leblose Körper allein aus diesem Trümmerberg in dem Ort Reghaia, östlich der Hauptstadt Algier. Wenigstens genauso viele werden noch unter diesem tödlichen Betongebirge vermutet.

Algerische Familien sind groß. Nicht selten leben zehn oder 15 Menschen in einer Zwei- bis Drei-Zimmer-Wohnung. 500 oder vielleicht sogar tausend Personen hausten – und starben – hier. Tausende Soldaten und freiwillige Helfer versuchen Stein um Stein abzutragen. Mit bloßen Händen. Einige haben Hacken und Schaufeln organisiert. Viel Erfolg haben sie auf diese Weise nicht. Kräne oder Bagger, die vorsichtig die tonnenschweren Trümmer anheben könnten, fehlen. Und nach 48 Stunden Dauereinsatz mangelt es den Männern, deren Gesichter durch den Staub zu Masken erstarrt scheinen, langsam an Kraft, um weiterzumachen. „Gib uns Mut“, rufen sie und schauen zum Himmel. Doch langsam sinken die Chancen, noch Überlebende zu finden. „Drei Tage kann man ohne Wasser und Nahrung mit Glück in einem Hohlraum unter den Gebäuderesten aushalten“, sagt ein algerischer Feuerwehrmann, der in seinem Leben noch nicht so grauenhafte Szenen wie nun in Reghaia gesehen hat.

Das Erdbeben erschütterte Nordalgerien am Mittwochabend gegen 19.45 Ortszeit, und das Zentrum lag rund 60 Kilometer östlich von Algier. Mehr als 1600 Tote und annähernd 10 000 Verletzte sind bis Freitagabend gezählt worden, inoffiziell ist schon von mehr als 2000 Toten die Rede. Tausende werden noch unter den Trümmern vermutet. Aus vielen Dörfern, die dem Erdboden gleichgemacht wurden, dringen immer noch keine Nachrichten. Vielleicht weil es keinen mehr gibt, der etwas berichten kann. „Wir wissen nicht, wie viele noch unter den eingestürzten Häusern begraben liegen“, sagt ein Regierungssprecher, der nicht ausschließt, dass die Opferzahl höher werden kann, als jene vor 23 Jahren. Damals kamen bei einem Erdbeben in Nordalgerien, dem bisher schlimmsten in der Geschichte, zwischen 2500 und 5000 Menschen um. Hunderte westliche Bergungsspezialisten und Ärzte trafen am Freitag im Katastrophengebiet ein. Aus Deutschland, der Schweiz, Österreich, Frankreich, Italien, Spanien und Großbritannien. Sie brachten Suchhunde, Medikamente, Decken, Zelte und Lebensmittel mit. Auch die Europäische Union bereitete eine internationale Rettungs- und Hilfsaktion für die algerischen Erdbebenopfer vor. Das Deutsche Rote Kreuz baute ein mobiles Lazarett mit 200 Betten auf. Ein Expertentrupp des deutschen Technischen Hilfswerkes (THW) begann mit der Suche nach Verschütteten. „Wir gehen mit unseren Rettungshunden in die zerstörte Häuser“, berichtete THW-Sprecher Florian Weber. Dort werde versucht, Lebenszeichen auszumachen. Weber berichtete am Freitag von einer „gewissen Schicksalsergebenheit“ der Menschen vor Ort. Was bleibt ihnen auch anderes übrig. Ähnlich wie in Reghaia sieht das Zentrum der benachbarten Stadt Boumerdes wie nach einem Bomben-Luftangriff aus. Dutzende Appartementhäuser scheinen wie im Erdboden verschwunden. Überlebende versuchen zu retten, was zu retten ist. Ali zum Beispiel, der zwischen den Trümmerhaufen ziellos herumsucht: „Hört mich jemand“, schreit er in das Nichts hinein. „Sagt doch was.“ Niemand antwortet. Weinend trägt er ein paar Habseligkeiten weg.

Zehntausende haben in Boumerdes die letzten Nächte auf der Straße verbracht. Wie auch in allen anderen vom Beben betroffenen Städten. In Zelten, in Autos, in Parks, oder auf dem nackten Boden. Auch tausende jener Häuser, die nicht zusammenkrachten, sind unbewohnbar geworden. Sie stehen schief, von Rissen durchzogen, mit eingestürzten Wänden. Das Fussballstadion von Boumerdes wurde als Notquartier beschlagnahmt. Die Zahl der Obdachlosen wird auf mehrere hunderttausend geschätzt. Und das in einem Land, in dem Wohnungen ohnehin schon knapp waren.

Ralph Schulze[Algier]

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