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Ich habe verstanden: Fröhlicher Pessimismus

Mit Sitte, Anstand und Moral scheint es den Bach runterzugehen, meint Matthias Kalle - endgültig. Es gibt genügend Gründe für Kulturpessimismus, an die Endzeitstimmung kann man sich glatt gewöhnen.

Klare Kiste - es herrscht Endzeitstimmung: seit dieser isländische Vulkan Asche gespuckt hat, drehen die Menschen durch, einiges wird jetzt erst offenbar. Am Mittwoch standen in der "Bild"-Zeitung zehn Untergangsprognosen, ausgehend von der Aschewolke, sie hatten mindestens biblische Dimensionen. Und jetzt, wo sich der Rauch allmählich verzieht, sieht man die Dinge in einem anderen Licht, im Licht der Sünde. Es scheint nämlich so, als würden alle Dämmen brechen und Sitte, Anstand und Moral hinwegspülen. Da war schon vor einigen Monaten der Fall Tiger Woods, da ist seit einigen Wochen der Mann von Sandra Bullock, da sind seit ein paar Tagen Franck Ribery und einige andere Fußballprofis und eine so genannte Lolita-Hure - und was im Prinzip nicht mal den Lesern des Fachmagazins "Gala" noch ein müdes "Ach was!" abringen würde, muss man doch im großen, gottlosen Gesamtzusammenhang sehen: da wäre doch fast ein, nun ja, Typ wie Menowin Fröhlich beinahe der Superstar geworden, den Deutschland gerade noch gesucht hat; da wäre noch der Augsburger Bischof Mixa, der nicht nur Kinder geschlagen hat, sondern wohl auch Geld veruntreut hat; da wäre dann ganz frisch auch noch eine neue Studie, die besagt, dass die Deutschen, ach was, die Europäer, immer noch gerne und relativ viel Alkohol trinken - und da fügt sich dann doch ganz langsam, aber ziemlich sicher ein Bild zusammen, dessen Anblick mindestens eine neue Ethik-Kommission auf den Plan rufen müsste. Nur: Wer soll die zusammenstellen? Jürgen Rüttgers? Vor ein paar Tagen bekam ich einen Leserbrief, darin stand, ich würde zum Kulturpessimismus tendieren. Das las sich zunächst wie ein Vorwurf, dann wie ein Kompliment, denn wie anders kann, soll und muss man die Lage der Dinge deuten, als einen Niedergang? Aber - und das ist das tolle an uns Kulturpessimisten: das wissen wir ja nicht erst seit Dieter Bohlen, wir wissen das ja schon seit dem 7. Jahrhundert vor Christus, seit Hesiod, und dann schrieb Platon in seiner "Politikos": "...dann ist wohl leicht zu entscheiden, dass die damaligen tausendmal glückseliger daran waren als die jetzigen. " Und Nietzsche schrieb 1878 einen Satz, der heute irgendwie auch gilt, nämlich: "Die Summe der Empfindungen, Kenntnisse, Erfahrungen, also die ganze Last der Kultur, ist so groß geworden, dass eine Überreizung der Nerven- und Denkkräfte die allgemeine Gefahr ist, ja dass die kultivierten Klassen der europäischen Länder durchweg neurotisch sind und fast jede ihrer größeren Familien in einem Gliede dem Irrsinn nahe gerückt ist." Andererseits kann man natürlich auch sagen: Kulturpessimismus ist ein Riesenspaß - viel zu lustig jedenfalls, um darüber zu verzweifeln, dass die Welt ein so schlechter Ort ist.

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