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Ich habe verstanden: Matthias Kalle fordert die olympische Wahrheit

Der Deutsche rodelt anständig, nun gut. Was der Deutsche aber nicht kann - und das bleibt den Sportfachleuten des Fernsehens komplett verborgen - ist Curling. Wer die Cracks aus Kanada und Schweden gesehen hat, der fühlt sich vom deutschen Fernsehen verarscht.

Am Anfang die Frage: Kann man eine Kolumne zum Ausgang dieser Woche schreiben, in der Helene Hegemann, Margot Käßmann, Patricia Riekel und Angela Merkel nicht vorkommen? Anders gefragt: Gibt es ein anderes Thema, gibt es andere Personen, die die Leser und die den Kolumnisten interessieren? Was ist noch nicht geschrieben, gedacht, gesagt worden zum Sozialstaat, zur Afghanistan-Debatte, zu Hertha BSC, zur S-Bahn?

Es ist eine Woche, in der eigentlich jeder zu all diesen Dingen mindestens drei Meinungen hat, die im Laufe der Nachrichtenlage durchaus variieren können. Zu den Olympischen Spielen in Vancouver gibt es hingegen relativ wenig Meinungen, es scheint beinahe so, als senden ARD und ZDF an den Informationsbedürfnissen ihrer Zuschauer vorbei, und es stimmt ja auch: ein Interview mit dem Langlauftrainer Jochen Behle wird auch im zwanzigsten Versuch nicht besser, nur einmal, zu Beginn der Spiele, erregte sich der Mann über eine großartige Fernsehreportage von Hajo Seppelt, dem Dopingreporter der ARD, die der Sender um Mitternacht ausstrahlte und in der es um Doping im Wintersport ging. Darüber durfte sich Behle unwidersprochen aufregen, es scheint zu gelten, dass ARD und ZDF deutschen Sportmenschen nichts Böses wollen, vielleicht liegt darin die große Tragik dieser Woche.

Es ist Teil des deutschen Sportschicksals, dass wir Medaillen nur in den langweiligsten Sportarten gewinnen - der Deutsche rodelt anständig, nun gut. Was der Deutsche aber nicht kann - und das blieb den Sportfachleuten des Fernsehens irrerweise komplett verborgen - ist Curling. Curling ist die Sportart, die angeblich viele Menschen im Fernsehen sehen wollen, so wohl die deutsche Frauen- als auch die deutsche Männermannschaft sind ausgeschieden, die Vermutung liegt nahe, dass das wahrscheinlich daran lag, dass andere besser waren, besser sind. Nun passierte aber immer, immer, immer Folgendes: Wenn der Skip der deutschen Frauenmannschaft auf dem Eis auftauchte, dann war die Rede von einer Strategin, ehrgeizig, immer Herrin der Lage, eine Virtuosin ihres Fachs. Die Fernsehbilder allerdings zeigten ein Versagen auf ganzer Linie, für jeden erkennbar. Und wer in der Nacht zum Freitag das Männer-Halbfinale zwischen Schweden und Kanada gesehen hat, der weiß jetzt, dass Curling tatsächlich eine wunderschöne Sportart sein kann: mit überraschenden Manövern und perfekten Strategien. Wer das sah, der fühlte sich zwei Wochen vom deutschen Fernsehen verarscht. Weil es einem diese Wahrheit vorenthalten hat.

Ich sah das. Ich fühlte mich verarscht. Und ich dachte an Helene Hegemann, an Margot Käßmann, an Patricia Riekel, an Angela Merkel. Ich dachte an die Sozialstaats-Debatte, an die Afghanistan-Debatte, an Hertha BSC und an die S-Bahn? Und zu all dem hatte ich in diesem Moment keine Meinung mehr und ich wollte auch keine Meinungen mehr hören. Ich würde jetzt so langsam ganz gerne mal die Wahrheit erfahren.

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