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Panorama: Ihre freie Entscheidung

Mehr Schaden als Nutzen? Kriminalpsychologe kritisiert Medienauftritte von Natascha und Stephanie

Berlin - „Was die Generation Golf von Natascha lernen kann.“ „Stephanie: Ich wünschte, auch er hätte sich umgebracht.“ „Spielt Scarlett Johansson Natascha Kampusch?“ Drei von hunderten von Schlagzeilen. Im Medienrummel rund um das Martyrium von Natascha Kampusch, 18, und Stephanie, 14, ist dieser Tage fast jedes Detail eine Schlagzeile wert. Die Wienerin Kampusch war über acht Jahre von ihrem Entführer festgehalten worden, die Dresdnerin Stephanie Anfang des Jahres mehr als fünf Wochen in der Gewalt ihres Peinigers. Bei „Google“ erzielt die Suche nach „Natascha Kampusch“ zwischenzeitlich über sieben Millionen Treffer. Im selben Zeitraum kommt „Angela Merkel“ auf 6,8 Millionen. Angela Merkel ist laut „Forbes“ die mächtigste Frau der Welt.

Auch darum geht es: Macht. Sie sei stärker gewesen als ihr Entführer, hat Natascha Kampusch im ORF-Interview gesagt. Sie wolle zeigen, dass sie „nicht gebrochen“ sei, sagte Stephanie im ZDF-Interview mit Johannes B. Kerner. Stephanies Psychologin Angelika Schrodt bekräftigte diese Aussage im Gespräch mit dem Tagesspiegel: „Ich finde es unpassend, dass man sie jetzt als schwaches Kind definiert.“ Stephanie sei stabil genug, „dafür kann ich meine Hand ins Feuer legen“.

Macht oder Ohnmacht – wie schnell der Umgang mit den Medien allerdings außer Kontrolle geraten kann, zeigen die neuesten Nachrichten zum Fall Kampusch. Laut „Stern“ war das Mädchen mit ihrem Entführer vor Jahren einmal Ski fahren. Kampusch selbst hat das erst dementiert, ihre Anwälte nun haben den Bericht bestätigt. Und mittendrin jede Menge Zwischentöne: Warum sie nicht geflohen ist, liest man – mal als Frage, mal als Vorwurf – aus den verschiedenen Berichten heraus.

Doch Häme ist nur ein Problem. „Für Opfer, die zu Medienstars werden, ist der Absturz umso schrecklicher“, sagt Adolf Gallwitz, Kriminalpsychologe an der Polizeifachhochschule Villingen-Schwenningen. Die plötzliche Prominenz lenke die Opfer noch ab. „Sie glauben, sie können ganz neu anfangen.“ Das Problem sei die Bedeutungslosigkeit, die nach dem großen Medieninteresse folgt: „Wenn sie einigermaßen ausgekaut und ausgelutscht sind, werden sie vom öffentlichen Interesse ausgespuckt.“ Aus Fernsehstars werden wieder Patienten. Ohne Beraterstäbe. „Die müssen bei null anfangen, weil sie gar nicht wissen, was alles an Vergangenheitsfälschung stattgefunden hat“, so Gallwitz.

Stephanies Psychologin Angelika Schrodt widerspricht dieser Ansicht: „Stephanie möchte das“, sagt sie. Die 14-Jährige habe mit ihrem Fernsehauftritt Gerüchten vorbeugen und dafür sorgen wollen, dass der Täter nie wieder freikommt. Gallwitz, den Schrodt als „einen guten Freund“ bezeichnet, habe mit seiner Kritik an öffentlichen Aufarbeitungen von Traumata in der Mehrheit der Fälle zwar Recht. In Stephanies Fall sei der Medienauftritt aber vertretbar gewesen. Der ZDF-Moderator Kerner wollte sich nicht zu seinem Interview mit Stephanie äußern. Der Moderator war im Jahr 2002 schon einmal in die Kritik geraten. Nach dem Amoklauf eines Schülers des Erfurter Gutenberg-Gymnasiums hatte er einen Elfjährigen vor laufender Kamera zum eben beendeten Blutbad in dessen Schule befragt.

„Eigentlich müssen die Opfer frei entscheiden, ob sie mit den Medien reden“, sagt Kriminalpsychologe Gallwitz. „Aber jemand, der ein solches Trauma erlebt hat, kann in der Regel nicht frei entscheiden.“

Marc Felix Serrao

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