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Panorama: Im Sessellift vergessen

Bettina B. dachte sich zunächst nichts, nichts Besonderes jedenfalls, als der Sessellift nach etwa fünf Minuten Fahrt plötzlich zum Stehen kam.

Bettina B. dachte sich zunächst nichts, nichts Besonderes jedenfalls, als der Sessellift nach etwa fünf Minuten Fahrt plötzlich zum Stehen kam. Sie dachte an einen kurzen Zwischenstopp und wartete auf die Weiterfahrt. Kurz vor 16 Uhr hatte die 39-Jährige aus Hilden bei Düsseldorf mit ihren beiden Söhnen, dem zehnjährigen Philipp und dem elfjährigen Sebastian, nochmals den Gschlöss-Lift bestiegen, zu einer letzten Abfahrt. Ehemann Dirk blieb im Tal, er hatte die Pisten am Fuße des Großglockners an diesem klaren kalten Neujahrstag ausreichend ausgekostet. Aber die beiden Buben wollten noch ein letztes Mal hoch, kurz vor Betriebsschluss.

Als der Vierersessellift unterwegs plötzlich anhielt, habe es für sie zunächst keinen Grund zur Sorge gegeben, wird Bettina B. später im Krankenhaus in Klagenfurt erzählen. Mit schweren Verletzungen an der Wirbelsäule und Erfrierungen an den Füßen und Händen liegt sie hier, als Opfer eines folgenschweren Missverständisses zwischen zwei Bediensteten der Kalser Bergbahnen, die den Gschlösslift von Grosdorf hinauf zur Blauspitze, den letzten Lift im Osttiroler Kalsertal, betreiben.

Die beiden Söhne kamen mit dem Schrecken davon. Am stillstehenden Lift mischte sich nach zehn, fünfzehn Minuten allmählich erste Beklemmung in das Warten. Rundherum waren keine Stimmen mehr im Gelände zu vernehmen, die Dämmerung schritt voran, beim Sitzen am Sessellift machte den drei nun auch die Kälte zu schaffen. Minus zehn Grad herrschten zu dieser Zeit. Niemand war da, nach dem gerufen werden konnte. Die Frau hatte kein Handy dabei, das Rettung bedeutet hätte.

Bettina B. ahnte langsam, was ihr und den Kindern widerfahren war. Der Stopp des Sesselliftes war kein Zwischenhalt, der Sessellift war abgeschaltet. Für die ganze Nacht. Die drei wurden vergessen. Die Mutter wusste sich keinen besseren Rat, als selbst Hilfe zu holen. Sie sprang ab. In die Tiefe, in den Schnee. Sie entschied sich, die Skier abzuschnallen und sich auch die Schischuhe auszuziehen, weil sie fürchtete, wie sie später sagte, sich mit den Schuhen beim Sprung an den Fußgelenken zu verletzen. Den Abstand zwischen Lift und Boden hatte sie aber wohl unterschätzt.

Ein Handy wäre die Rettung gewesen

Beim Aufprall nach einem Sprung von etwas sechs Metern Höhe habe sie sich schwere Prellungen an der Wirbelsäule zugezogen, sagte der mit den Ermittlungen betraute Polizist vom Gendarmerieposten Huben, Franz Franzeskon, dem Tagesspiegel. Die Frau habe dann versucht, auf einem verschneiten Almweg die etwa 200 Meter entfernte Piste zu erreichen. Wegen ihrer Verletzungen schleppte sie sich kriechend voran. Ohne Schuhe bei zehn Grad minus. Ohne sich bei der einbrechenden Dunkelheit orientieren zu können. Am Pistenrand sei sie dann aus Erschöpfung und unterkühlt zusammengebrochen, sagt der Polizeibeamte.

Eine halbe Stunde nachdem sie vom Lift gesprungen war, hat sie der Fahrer eines Raupenfahrzeuges entdeckt. Dieser war aufgebrochen nach der Frau zu suchen, nachdem ihr Mann Dirk bei der Talstation des Liftes Alarm geschlagen und seine Frau und die beiden Kinder als vermisst gemeldet hatte.

Die beiden Buben wurden mit dem Lift zur Talstation und dann mit dem Raupenfahrzeug zu Tal befördert. Sie erlitten leichte Erfrierungen und einen leichten Schock. Bettina B. wurde mit dem Notarzthubschrauber des Österreichischen Automobilclubs zunächst ins Bezirkskrankenhaus nach Lienz, dann in das Krankenhaus Klagenfurt geflogen.

Nach einer ersten Rekonstruktion des Geschehens durch die Polizei lag der Grund in einem Missverständnis zwischen dem Liftwart im Tal und jenem an der Bergstation. Der Liftwart bei der Talstation hatte sich oben erkundigt, ob die letzten drei Fahrgäste den Lift verlassen hätten. Sein Kollege hatte dies bejaht. Beide hatten aber offenbar von zwei verschiedenen Dreiergruppen gesprochen. Üblicherweise müsste der Liftwart im Tal auch die Nummern des Sessels notieren und nach oben melden. Dies hatte er unterlassen. Der 50-jährige Mann sei vorerst suspendiert worden, sagt der Geschäftsführer der Kalser Bergbahnen, Kaspar Unterberger. Die Konsequenzen seien für die Kalser Bergbahnen noch nicht absehbar, meinte Unterberger. Er habe bei den Behörden Anzeige erstattet. Eine Kontrollfahrt sei für Sesselbahnen nicht zwingend vorgeschrieben. "Wenn die Nummer des letzten besetzten Sessels notiert wird, ist das auch nicht nötig", betonte der Geschäftsführer. Das Skigebiet Kals ( www.kals.at ) liegt in Osttirol am Großglockner. Der Berg ist mit 3798 Metern Höhe der höchste Gipfel des Alpenlandes Österreich.

Was tun in einer solchen Situation?

An einen ähnlichen Vorfall kann sich in Tirol kaum jemand erinnern. Ein Bergretter aus St. Johann war der einzige, der schon einmal gehört haben will, dass Fahrgäste auf einem abgeschalteten Sessellift vergessen worden sind. Konkrete Angaben konnte auch er nicht machen. Aufgrund der Seltenheit derartiger Vorfälle gibt es bislang auch keine festen Verhaltensregeln. Die Tiroler Bergrettung gibt dennoch ein paar Empfehlungen.

Ein Handy mitnehmen. Das Handy-Netz ist in vielen Skigebieten gut ausgebaut. In dem vorliegenden Fall hätte die Frau mit einem funktionierenden Handy sofort Hilfe anfordern können.

Nicht in die Tiefe springen. Erstens wird der Abstand zum Boden oft unterschätzt. Zweitens besteht die Gefahr von schweren Brüchen an Füßen oder gar der Wirbelsäule aufgrund der Unterkühlung: der Körper wird starr nach längerem Sitzen am Lift.

Im Lift warten. Das gilt vor allem dann, wenn die Wahrscheinlichkeit hoch ist, dass der Ehepartner oder andere Vertraute eine Vermisstenmeldung aufgeben. Dann werden sofort Suchmannschaften losgeschickt.Vertraut werden kann in der Regel auch auf die Pistenstreife. Sie fährt in allen Skigebieten nach Betriebsschluss das Gelände ab.

Benedikt Sauer

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