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Im Zeitalter von Facebook und Co.: Was ist Freundschaft?

Kein Mittel zum Zweck soll sie sein. Und es dauert, bis sie entsteht. Das war schon in der Antike so. Doch nun verändert sie sich

Von Caroline Fetscher

WER IST JOE?

Wie bitte? Wer ist Joe? Was hat das mit dem Thema zu tun? Nun, Joe ist ein „friend“, ein Freund im Zeitalter des Internets. Und Joe hat Ehrgeiz, eine Million „friends“ möchte er gewinnen, das Ziel hat sich der 1969 im US-Bundesstaat New York geborene Ehemann und Vater gesetzt. Als studierter Computerexperte und Fußballtrainer gibt sich der kurz geschorene Mann auf seiner Website aus, um Glaubwürdigkeit zu signalisieren. Sein Umfeld erkläre ihn für verrückt, er aber möchte für eine Dissertation nachweisen, dass so ein Projekt funktioniert (www.squidoo.com/1millionFBfriends).

Vor nicht mal 20 Jahren, erinnert Joe seine Leser im Internet, gab es weder E-Mail noch Live-Chats, Video-Chats oder Skype-Telefonieren: „Noch vor 20 Jahren ging man auf eine Party, wenn man neue Leute kennenlernen wollte.“ Heute indes gibt es so sagenhafte soziale Netzwerke wie Youtube, MySpace, Facebook, Studi VZ, Twitter. Joes Projekt nutzt das Schneeballsystem von Kettenbriefen. Jeder Adressat schreibt drei weitere an, dann geht’s weiter auf Facebook.

Facebook ist das Synonym für eine Revolution des Kommunizierens. Wer sich auf der sozialen Internetplattform registriert, wird automatisch ein „friend“, die Profile der Freunde kann einsehen, wer zu einer Gruppe dazugehört. Facebook erweckt den Eindruck einer globalen „friends“-Inflation. Zählte die Plattform im August 2008 hundert Millionen registrierte Nutzer, waren es im September 2009 schon 300 Millionen, derzeit sollen es weltweit an die 600 Millionen sein. Dass die Cyberfriend-Blase einmal platzt, ist, trotz enormer Inflationsrate, kaum erwartbar. Denn jeder braucht „friends“. Der Bedarf steigt und steigt. Viele Facebook-User haben hunderte, manche tausende Freunde.

WANN FING FREUNDSCHAFT AN?

Wir wissen es nicht. Auch Historiker und Soziologen, die sich dem Thema zuwandten, könnten das kaum mit Sicherheit sagen. In der Antike finden sich die ersten schriftlichen Quellen zur Freundschaft, etwa in Platons Dialogen oder den Schriften seines Schülers Aristoteles. „Nur der Entschluss zur Freundschaft, nicht die Freundschaft, kommt schnell zustande“, schrieb dieser griechische Philosoph, der von einer Zukunft mit Facebook so wenig ahnen konnte wie wohl die meisten Facebook-User von der antiken Vergangenheit. In seiner „Nikomachischen Ethik“, verfasst 322 vor Christus, befand Aristoteles: „Vollkommen aber ist die Freundschaft guter und an Tugend einander ähnlicher Menschen.“ Ein Freund ist kein Mittel zum Zweck, aus einem Freund zieht man keinen Nutzen, einem Freund vertraut man. „Die aber dem Freunde um seiner selbst willen Gutes wünschen, sind Freunde im vollkommenen Sinne.“ Solche Freundschaft habe Bestand. Einschränkend merkte Aristoteles an: „Naturgemäß sind aber derartige Freundschaften selten, da es Männer der bezeichneten Art nur wenige gibt.“ Wichtig war ihm der Hinweis, es bedürfe „zur Bildung solcher Herzensbünde“ der Zeit. Aristoteles zitierte dazu das griechische Sprichwort, wonach man einander nicht kennenlernen könne, „ehe man zuvor nicht ein Scheffel Salz miteinander gegessen hat“. Es dauert, bis so ein Scheffel bei Mahlzeiten aufgebraucht ist.

WOHER KOMMT DER BEGRIFF DER FREUNDSCHAFT?

Es dauerte auch eine ganze Weile, bis die Freundschaft nach der Antike wieder eine große Rolle spielte – so lange, bis sich die Humanisten in der Renaissance auf die Antike besannen. Wie jemand ein Freund wird, darüber besaß jede bekannte Epoche in jeder Region der Erde und in jeder Gesellschaft ihre eigenen Ansichten. Freundschaft ist eine Form der Liebe, das zumindest zeichnet sich etymologisch ab. Der römische amicus geht zurück auf das lateinische Wort für Liebe, amor, wie der griechische philos von philao, „ich liebe“ kommt – und ein Philosoph ist ein Freund der sophia, der Weisheit. Freundschaft im idealen Sinn, wie Aristoteles sie entwirft, gedeiht vor allem in Gesellschaften, in denen es einen gewissen Grad an Freiheit, sozialer Mobilität und Aufklärung gibt, also dort, wo weder die starren Raster von Hierarchie, Klan, Kaste, Klasse noch religiöse Ideologie die Regeln des Miteinander monopolisieren. Frühe nomadisierende Horden bestanden aus Sippen und Klans, dauerhafte Freundschaften unter Nichtverwandten waren kaum möglich. Erst die Sesshaftigkeit bescherte Menschen den Nachbarn – „der nah an mir baut“ –, mit dem unter Umständen freundschaftliche Beziehungen eingegangen werden konnten. Aber das deutsche Wort Freund, aus dem gotischen „frijond“ für „lieben“ hergeleitet, bezeichnete zwischendurch auch die Blutsverwandten oder die Gesamtheit aller Verwandten. Davon waren Freunde und Freundinnen im antiken und erst recht im modernen Sinn lange Zeit weit entfernt.

WIE VERÄNDERTE SICH FREUNDSCHAFT IN DER GESCHICHTE?

„Ein Geheimnis, das niemand anderem zu enthüllen ich geschworen habe, kann ich, ohne einen Meineid zu begehen, dem mitteilen, der kein anderer ist: Er ist ich“, schrieb der französische Denker Michel de Montaigne, geboren 1533, über seinen engsten Freund, den Dichter Etienne de La Boétie, dem er einen Essay über die Freundschaft widmete. Montaigne wusste, wie rar und kostbar diese freundschaftliche Beziehung damals war. „Wir haben“, schrieb er, „diese Freundschaft so restlos und innig zwischen uns gehalten, dass sich kaum in der Überlieferung ähnliche finden und unter den heutigen Menschen sicherlich keine Spur davon anzutreffen ist. Es muss so viel zusammentreffen, um dergleichen zu erreichen, dass es viel ist, wenn das Schicksal es einmal in drei Jahrhunderten zustande bringt.“ So lange sollte es bis zur Epoche der Empfindsamkeit durchaus dauern. Dass sich auch Frauen für Freundschaft qualifizieren – in der Antike hatte die Lesbierin Sappho das mit ihrer Lyrik beschrieben –, kam erst mit den Individualisierungsschüben der Romantik voll zum Zug. Was wir Zeitgenossen unter einem Freund verstehen, das verdanken wir vor allem der Epoche der Romantik und Empfindsamkeit, die so legendäre Freundschaften hervorbrachte wie jene zwischen Schiller und Goethe oder Bettine von Arnim und Karoline von Günderode. Um 1804 sieht die Dichterin Günderode während der Abwesenheit ihrer Freundin Bettine nach deren Zimmer und schreibt ihr dazu: „In Deinem Zimmer sah es aus wie am Ufer, wo eine Flotte gestrandet war. (…) Der Homer lag aufgeschlagen an der Erde, Dein Kanarienvogel hatte ihn nicht geschont, Deine schöne erfundne Reisekarte des Odysseus lag daneben und der Muschelkasten mit dem umgeworfenen Sepianäpfchen und allen Farbenmuscheln drum her …“ Und so geht es seitenlang weiter, bis sie der Freundin offenbart: „Ich habe mit wahrem Vergnügen Dir Dein Zimmer dargestellt, weil es wie ein optischer Spiegel Deine aparte Art zu sein ausdrückt, weil es Deinen ganzen Charakter zusammenfasst.“ Diese Aufmerksamkeit für den anderen, das Erkennen des Einzigartigen, Individuellen, ist verhältnismäßig neu. Ausschlaggebend für die Entwicklung des „deutschen Freundschaftskultes“ von 1750 bis 1850, sei, so die Sozialhistoriker, der gewaltige, verunsichernde Umbruch in der damaligen Gesellschaft gewesen. Aufklärung und Industrialisierung erschütterten die Tradition, Halt fand man beim geliebten, geschätzten, treuen Gegenüber.

WAS ZEICHNET FREUNDE AUS?

Schriftsteller, Philosophen, Soziologen, Psychologen – viele haben sich daran versucht, Kriterien und Kategorien der Freundschaft zu finden. Fast allen gemein ist der Gedanke, dass private Freundschaft keinem Zweck und Nutzen dienen darf. Auch gilt, dass Freundschaft nicht asymmetrisch ist, sie entsteht und geschieht auf Augenhöhe. Zu ihr gehören Vertrauen, gegenseitige Kritik und Ermutigung im Schutz dieses Vertrauens, Kenntnis und Akzeptanz des anderen mit allen seinen hellen und dunklen Seiten. Der Dichter und Orientalist Friedrich Rückert (1788–1866) erklärte: „Dein wahrer Freund ist, wer dich sehn lässt deine Flecken, und sie dir tilgen hilft, eh’ Feinde sie entdecken.“ Zentral ist hier – wie fast überall in den Quellen zur Freundschaft – das Leitmotiv der Loyalität. Freundschaft, die in der Gegenwart typischerweise damit beginnt, dass der andere in die privaten Räume eingeladen wird, dass einer dem anderen etwas Privates preisgibt, fußt und baut darauf, dass Vertrauen nicht verraten, Schwächen nicht ausgenutzt, intim Anvertrautes nirgends weitergegeben werden.

WIE VERÄNDERT SICH FREUNDSCHAFT IN DER MODERNE?

Auch bei den Sängern der Comedian Harmonists in den zwanziger und frühen dreißiger Jahren schwingt das Motiv der Freundschaft als fester Halt in unsicheren Zeiten deutlich mit: „Ein Freund, ein guter Freund, / das ist das Schönste, was es gibt auf der Welt. / Ein Freund bleibt immer Freund, / und wenn die ganze Welt zusammenfällt. / Drum sei auch nicht betrübt, / wenn dein Schatz dich nicht mehr liebt. / Ein Freund, ein guter Freund, / das ist der größte Schatz, den’s gibt.“ Bei Antoine de Saint-Exupéry bittet der wilde Fuchs den kleinen Prinzen, ihn zu zähmen, doch der kleine Prinz meint, keine Zeit dazu zu haben. Man kenne nur die Dinge, die man zähmt, beharrt der Fuchs. „Die Menschen haben keine Zeit mehr, irgendetwas kennenzulernen. Sie kaufen sich alles fertig in den Geschäften. Aber da es keine Kaufläden für Freunde gibt, haben die Leute keine Freunde mehr. Wenn du einen Freund willst, so zähme mich!“ Antoine de Saint-Exupéry in seinem an Kitsch grenzenden und gleichwohl berührenden Kinder- und Erwachsenenbestseller formuliert hier das Unbehagen in der Kultur der Moderne aus, die der Fabelfuchs auf dem fernen Planeten so überraschend gut kennt. Hier spiegelt der Fuchs die tiefe Sehnsucht des Kindes – des kleinen Prinzen –, etwas Besonderes für den anderen zu sein, ein Individuum in der Zivilisation (gezähmt – also zivilisiert) und keine Ware, kein Zweckobjekt, kein Nutzgegenstand. Auch in der „Freundschafts“-Inflation auf Facebook und in anderen sozialen Netzwerken drückt sich solches Begehren aus. Den Bedrohungen der rapide wachsenden Globalisierung hoffen die postenden, chattenden, bloggenden Teilnehmer entrinnen zu können, indem sie den Globus mit einer rapide wachsenden Zahl von „Freunden“ bevölkern. Dass die Lebenszeit eines Individuums aber nicht ausreichen kann, auch nur hundert wahre Freunde zu haben, wird die Cybergesellschaft mit den Jahren begreifen. Das metaphorische Zimmer des anderen, seine Gedanken, Stimmungen, Gesichtszüge, Gesten, Geschichten – im Cyberspace werden sie auf Dauer nicht zu haben sein.

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