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Panorama: Indien nach dem Beben: Es trifft vor allem die Wohlhabenden

Es gibt Anblicke, die man wohl nicht so schnell vergessen wird. Dieses kleine Kind dort.

Es gibt Anblicke, die man wohl nicht so schnell vergessen wird. Dieses kleine Kind dort. In der Ecke einer Lagerhalle, die zu einem provisorischen Hospital umfunktioniert wurde, sitzt es auf einer Matte: Schmutzig, blutverschmiert, ein braunes Hemdchen auf dem nackten Oberkörper. Es sitzt da und weint still und verzweifelt vor sich hin. Große Tränen kullern über seine Wangen. Ein Ärmchen und ein Bein sind dick bandagiert. Sie enden stumpf: amputiert. Niemand ist da, der sich um das Kind kümmert, der es tröstet. "Wir wissen nicht, ob seine Eltern noch leben" sagt die Krankenschwester im Vorbeirennen.

Auf zerbeulten Betten liegen Menschen und warten darauf, dass man auch ihnen die Gliedmaßen abschneidet. Fast 40 000 Notoperationen sind bis Montagabend im Erdbebengebiet ausgeführt worden.

Oder da ist dieses etwa zehnjährige Mädchen. Seinen Kopf hat es in ein klaffendes Loch gesteckt, in einem Trümmerberg. Panisch schreit es die Namen seiner Familienangehörigen in das Loch, einen nach dem anderen. Doch niemand antwortet. "Wir holen jetzt nur noch Leichen aus den Trümmern" sagt ein Soldat. Und doch bleibt da immer noch die Hoffnung auf ein Wunder. Denn haben sie da nicht eben diese junge Frau unter dem Beton hervorgeholt, 50 Stunden nach der Katastrophe? Sechs Stunden hatten sie versucht, sie zu befreien. Ihre Beine waren eingeklemmt. "Wir mussten ganz vorsichtig vorgehen, weil sonst das ganze Gebäude über uns zusammengestürzt wäre" erklärt ein Helfer. "Ihre Eltern haben wir schon gefunden. Tot. Sie weiß es noch nicht".

Und das ist die 40-jährige Kusmu, die sie schon am Montagmorgen fanden. Fast unversehrt hatte sie überlebt. Sie taumelt, als sie ans Tageslicht geholt wird, aber sie lächelt. Endlich. "Und eine 90-jährige Frau haben sie auch noch gefunden", weiß jemand. Sie überlebte offenbar, weil ihre Nähmaschine sie vor der herabstürzenden Decke schützte.

Doch am Montagabend hatte man in Indien die Hoffnung fast aufgegeben, noch weitere Tote zu finden. Es war einfach zu viel Zeit verstrichen seit der Katastrophe am Freitagmorgen. Aber dennoch sind sie überall immer noch dabei zu suchen. Die Armee, die inzwischen verstärkt wurde mit ihrem schweren Gerät, die normalen Bürger mit ihren bloßen Händen, mit primitiven Vorschlaghämmern, ja sogar mit Schraubenziehern. Der Premierminister Atal Behari Vajpayee, der am Montag in die zerstörte Millionenstadt Ahmedabad flog, wird schweigend, fast grimmig begrüßt. "Warum haben Sie nicht schneller reagiert. Jeder weiß doch, dass es auf die ersten Stunden ankommt", sagt ein bitterböser Dinesh Patel. Seit Freitag kampiert die Großfamilie in einem Park vor den Trümmern, die einmal ein Hochhaus waren. Hier befanden sich die Eigentumswohnungen der Familie, Mittelstandsbürger, relativ gut betuchte Geschäftsleute, die es sich leisten konnten, in so einem schicken Apartmenthaus zu wohnen. Sonst sind es immer die Armen, die am meisten leiden müssen, aber diesmal ist es genau umgekehrt, wenigstens in der wohlhabenden Industriestadt Ahmedabad. Dort waren es die Hochhäuser der Betuchten, die als erste zusammenbrachen. Während die Elendshütten der Armen relativ unbeschädigt blieben.

Schlecht gebaut sind diese neuen Hochhäuser von skrupellosen Geschäftemachern. Sicherheitsstandards, die gibt es nur auf dem Papier. "Wir haben alles verloren, was wir hatten" sagt Dinesh Patel. Wieder erschüttert ein Nachbeben den Boden. Dineshs junge Schwester beginnt zu weinen. Sie sind alle fix und fertig. "Nun können wir wieder bei null anfangen, obwohl wir einmal reich waren. Helfen wird uns niemand."

Gabriele Venzky

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