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Panorama: Indien: "Tut doch endlich was"

Wild gestikulierend reißt ein graubärtiger Mann einen Armeeoffizier an seiner Tarnuniform zu einem Trümmerhaufen in Bhuj. "Die Ausländer haben doch gesagt, dass darunter noch Leben sein könnte", schreit er.

Wild gestikulierend reißt ein graubärtiger Mann einen Armeeoffizier an seiner Tarnuniform zu einem Trümmerhaufen in Bhuj. "Die Ausländer haben doch gesagt, dass darunter noch Leben sein könnte", schreit er. "Holt endlich euren Bulldozer und fangt an zu graben." Wütend schreien auch die anderen, die da stehen: "Niemand hilft uns, niemand ist für uns da, tut doch endlich etwas." Am anderen Ende der Stadt wird die 13-jährige Prinyanka soeben nach fünf Tagen und vier Nächten unter Tonnen von Schutt aus den Trümmern ihres einstigen Wohnhauses gerettet. "Ich fühle mich gut", sagt das Mädchen, dessen Haar noch immer sorgfältig zu zwei Zöpfen nach hinten gebunden ist. Am vergangenen Freitag, dem Tag des verheerenden Erdbebens, habe sie in ihrem Zimmer geschlafen, erzählt sie. Ihre Eltern und ihr Bruder seien gerade nicht im Haus gewesen. Und in der ebenfalls schwer zerstörten Stadt Bachao wurde die 102 Jahre alte Veji Bhen nach vier Tagen unter Trümmern lebend geborgen.

Die Leute von Bhuj mögen einfach nicht glauben, dass es keine Hoffnung auf weitere Überlebende mehr gibt. "Sieben Tage nach der Katastrophe - das schafft niemand", sagt auch der Mann vom deutschen Technischen Hilfswerk. Am Mittag bestiegen sie das Flugzeug zurück nach Deutschland. Vor dem Abflug appellierten die THW-Mitarbeiter an die internationalen Hilfsorganisationen, ihre Einsätze künftig besser zu koordinieren. Denkbar sei beispielsweise eine Informationsbörse im Internet, bei der vereinbart werden könne, "was, wer, wo macht".

Drüben, wo die Nahrungsmittel ausgegeben werden, steht mit entschlossenem, verschrammten Gesicht die vierjährige Rashida Ben in der Schlange und hofft, etwas Essbares zu ergattern. Auch sie hat man, drei Tage nach der Katastrophe, gerettet, aber der Rest der Familie gilt als vermisst. "Was soll nur aus all den Waisen werden", sagt eine ältere Frau, die sich freiwillig zur Ausgabe von Wolldecken gemeldet hat.

Beißender Rauch weht herüber. Leichen werden auf Autoreifen verbrannt. Die Altstadtviertel von Bhuj und Anjar sind von der Armee abgeriegelt worden, weil Plünderer sich über die Trümmer hergemacht haben. Bhuj war die Stadt der Juweliere. "Ich lag unter den Trümmern und schrie um Hilfe", erzählt eine Frau, "aber sie waren nur darauf aus, unseren Schmuck zu stehlen."

Sieben Tage nach der Katastrophe rechnen die Behörden mit 100 000 Todesopfern. Am Donnerstag verlagerte sich der Schwerpunkt der Aktionen von der Suche nach Überlebenden auf Maßnahmen für das Überleben der Überlebenden. Auf Hochtouren arbeiten Nothospitäler unter freiem Himmel ohne Strom. Brüche werden versorgt, Beine und Arme amputiert. Sterilität? Nein. "Es ist jetzt nur noch eine Frage der Zeit, dass wir die ersten Tetanusfälle haben", prophezeit ein Chirurg.

Auch Durchfallerkrankungen machen die Runde. Gerüchte berichten von ersten Pestfällen - die Behörden dementieren. Aber die Menschen sind geschwächt. Typhus, Infektionen, Cholera, fehlende Toiletten, kein Wasser zum Waschen, und unter den zusammengestürzten Häusern verwesen die Leichen. Das Rote Kreuz hat eine Zeltklinik aufgestellt.

In der Millionenstadt Ahmedabad wurden am Donnerstag die ersten zerstörten Hochhäuser abgerissen. "Mein Gott", sagt ein altes Ehepaar, "dafür hatten wir nun unser ganzes Leben gespart." Erzfeind Pakistan schickte am Donnerstag eine zweite Transportmaschine mit Hilfsgütern. Die Regierung in Neu Delhi nannte dies einen Propagandatrick. "Es sind eben doch unsere Brüder", sagen die Menschen.

Gabriele Venzky

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